Mit "Mal – Embriaguez Divina" übertrifft sich Marlene Monteiro Freitas.

Peter Hönnemann

Im Hintergrund spielt ein Grüppchen Volleyball, vorn, neben einer Holztribüne, protzt ein fescher Wächter mit seiner MP. Aus dem Off rasselt eine vulgäre Stimme. Es ist die von Frank, der über Dorothy herfällt, während sich Jeffrey im Wandschrank versteckt hält und zusieht. Mit diesem Audio-Zitat aus David Lynchs Film "Blue Velvet" (1986) zündet die Choreografin Marlene Monteiro Freitas die Lunte an ihrem jüngsten Stück "Mal – Embriaguez Divina", das derzeit bei den Wiener Festwochen zu sehen ist.

Mit "Embriaguez Divina" meint die auf den kapverdischen Inseln geborene Künstlerin den "göttlichen Rausch" des Lebens, wenn dieses über ethische Grenzen hinweg ins Üble, Schmerzliche und Böse ("Mal") kippt. Als eine Grundlage dafür führt Freitas die Gedanken des französischen Philosophen Georges Bataille ("Die Literatur und das Böse", 1957) an, aber sie gibt auch Raum für Hannah Arendts Ansatz von der "Banalität des Bösen" aus deren 1963 erschienenem Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen".

Vom Bösen

Bei Arendt geht es um den Prozess gegen den Organisator der Schoah und dessen Performance als unscheinbar wirkender Bürokrat. Dazu passend führt Freitas den Nukleus des Bösen als Regierungs-, Gerichts- und Publikumstribüne vor. Neun Gestalten, mehrheitlich in blauen Samt – siehe "Blue Velvet" – gekleidet, finden darin Platz: Seltsam wirkende Figuren, die ihr Volleyballspiel sein gelassen haben, um auf der an drei Seiten mit Netzen umgrenzten Bühne zu tanzen, zu marschieren, eine weiße Fahne hochzuhalten. Eine Frau thront hoch auf der Tribüne. Sie trägt eine Krone und Brillen aus weißem Papier.

Was nun folgt, ist die absurde Dynamik einer rauschhaften Banalität. Aus Papierblättern werden kleine Szenarien gefaltet – Häuser, Masken, Türme –, die aus Träumen oder Wunschvorstellungen kommen könnten. Eine Explosion ganz in der Nähe, noch eine und wieder. Das klingt wie im Krieg, doch die Gestalten bleiben völlig ungerührt. Einer von ihnen, wird sich herausstellen, fehlen beide Beine.

Gegenteil von Diskriminierung

Das ist die Tänzerin Mariana Tembe aus Mosambik, die manche vielleicht aus dem Dokumentarfilm "Body and Soul" (2010) von Matthieu Bron kennen, der 2013 auch in Wien gezeigt wurde. Jetzt ist sie eine der Schlüsselfiguren von "Mal – Embriaguez Divina". Die Behauptung einer deutschen Rezension – das Stück wurde gerade in Hamburg uraufgeführt –, das Stück hätte einen "ableistischen Unterton", entbehrt jeder Grundlage. Denn Ableismus bedeutet Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, und bei Freitas’ Stück passiert genau das Gegenteil.

Tembe wird eben nicht nur auf ihre spezielle Körperlichkeit reduziert, sondern kann eine ganz besondere Figur schaffen. Damit nimmt sie eine ähnliche Position ein wie der ebenfalls beinlose Tänzer David Toole in "Living Costs" (2003) des britischen Choreografen Llloyd Newson, dem Stück hinter dem vielleicht bekannteren Film "The Cost of Living".

Falscher Verdacht

Der falsche Verdacht passt allerdings auch ins komplexe Bild der von Marlene Monteiro Freitas anvisierten Thematik. Die Bürokratie des selbstgerechten Bösen basiert auf Denunziation und auf manipulierten Gefühlen. Zur Verdeutlichung des Zweiteren steigert sich bei "Mal – Embriaguez Divina" eine voyeuristische Jury in eine obszöne Klatschchoreografie hinein: im Netz ihres eigenen Gefängnisses zur aufwühlenden Musik des letzten Akts von "Schwanensee".

Im Gegensatz zu ihrer äußerst erfolgreichen Vorgängerarbeit "Bacantes – Prelúdio para uma purga" versetzt Freitas den dionysischen Exzess jetzt in den akustischen Hintergrund: als ekstatische Percussions und als Geschrei jubelnder Massen. Gegen Ende bringt sie die niederschmetternde Türhüterparabel aus Franz Kafkas Roman "Der Prozess" ins Spiel, gewissermaßen als Beleg für die Kompromisslosigkeit der begrenzten Existenz.

Neuer Stern

Mit "Mal – Embriaguez Divina" übertrifft sich Freitas, dieser neue Stern am europäischen Choreografinnenhimmel, noch einmal selbst. Sie bringt das Kunststück zustande, die zwielichtige Sinnlichkeit des Banalen überzeugend vorzuführen – ohne eingrenzende Geschichte und ohne perverse Moralisiermaschine, dafür aber mit Bildern, die sich nachhaltig im Gedächtnis einnisten. (Helmut Ploebst,4.9.2020)