Ein Lystrosaurus in winterschlafähnlichem Zustand.
Illustration: Crystal Shin

Auch ohne Massenaussterben (ob vom Menschen ausgelöst oder natürlicher Ursache) treten laufend Tierarten von der Bühne des Lebens ab. Hintergrundsterben nennt sich der stetig ablaufende Prozess, der seit Anbeginn der Evolution Spezies verschwinden lässt, während sich neue entwickeln.

Jeder Art ihr Zeitfenster

Aus dem Fossilienbefund haben Forscher versucht, die durchschnittliche Lebensdauer einer Tierart zu berechnen. Jede Zahl ist natürlich nur als grobe Schätzung zu betrachten, aber im Schnitt soll sich eine Tierart eine bis zehn Millionen Jahre lang halten. Wir Säugetiere werden eher am unteren Ende der Skala eingestuft, von zweieinhalb Millionen Jahren abwärts.

Lystrosaurus, ein ferner Verwandter der Säugetiere, hat "sein" Zeitfenster voll ausgekostet: Das urtümliche Tier bevölkerte die Erde nach heutigem Wissensstand etwa fünf Millionen Jahre lang in großer Zahl. Dabei hätte sein Timing gar nicht ungünstiger sein können: Mitten in diesem Zeitfenster fand nämlich das größte Massenaussterbeereignis der Erdgeschichte statt.

Eindeutig geklärt sind die Ursachen der globalen Katastrophe an der sogenannten Perm-Trias-Grenze noch nicht. Als wahrscheinlichste Erklärung gilt, dass Vulkanismus in gigantischem Ausmaß eine ökologische Kettenreaktion ausgelöst hat. 96 Prozent aller Meeresbewohner und 70 Prozent aller Landwirbeltiere sollen damals, vor 252 Millionen Jahren, ausgestorben sein. Lystrosaurus aber lebte ein paar Millionen Jahre davor und auch danach, als wäre dazwischen nichts Nennenswertes geschehen.

Kurzvorstellung

Äußerlich hätte das das plump gebaute Tier am ehesten einer Mischung aus Schildkröte und Schwein geähnelt. Die größten Vertreter der Gattung konnten über zwei Meter lang werden, die kleinsten brachten es auf wenig mehr als einen halben. Sie waren Pflanzenfresser und hatten wie Schildkröten eine Art Schnabel. Das Maul war zahnlos, nur zwei Eckzähne im Oberkiefer waren übriggeblieben, die zu Mini-Stoßzähnen ausgebildet waren. Damit dürfte Lystrosaurus im Boden nach Wurzeln und Knollen gegraben haben.

Querschnitt durch den Stoßzahn eines antarktischen Lystrosaurus. In der Nahaufnahme oben rechts zeigt der weiße Balken eine Zone dichtgepackter Ringe an, die sich in einer Periode des Winterschlafs gebildet haben dürften.
Illustration: Megan Whitney/Christian Sidor

Dieses spezielle Merkmal haben sich Forscher der Universitäten Harvard und Washington genauer angesehen. Denn wie bei Elefanten wuchsen auch diese kleinen Stoßzähne ein Leben lang und enthalten damit biografische Daten, etwa über Wachstum oder durchlebte Hungerzeiten. Das Dentin der Zähne bildet ein Muster unterschiedlich starker Schichten, die die guten und die schlechten Phasen im Leben des Tiers widerspiegeln.

Dabei stieß das Team um Harvard-Forscherin Megan Whitney auch auf ein besonderes Muster: dicke, eng beieinander liegende Ringe, in denen wenig Dentin abgelagert wurde, was für lange Phasen des Mangels spricht. Die größte Ähnlichkeit zu diesem Muster fand Whitney bei einigen heutigen Tierarten, die Winterschlaf halten. Sie vermutet daher, dass auch Lystrosaurus in einen Zustand des Winterschlafs oder allgemeiner ausgedrückt des Torpors verfallen konnte. In einem solchen Zustand fahren Tiere nicht nur ihre Aktivitäten, sondern auch ihren Stoffwechsel drastisch herunter, um Perioden des Nahrungsmangels oder harscher Umweltbedingungen auszusitzen.

Für die Winterschlafhypothese spricht laut der Forscherin auch, dass nicht alle untersuchten Lystrosaurier dieses Muster zeigten. Zehn Exemplare wurden analysiert: Sechs davon lebten auf 72 Grad südlicher Breite, also innerhalb des südlichen Polarkreises. Die übrigen vier wurden im heutigen Südafrika ausgegraben. Und das Winterschlafmuster war nur bei den antarktischen Exemplaren deutlich ausgeprägt. Das kennt man auch von heutigen Tieren: Hoch im Norden lebende Waschbären etwa halten eine Winterruhe – ihre Artgenossen im warmen Süden tun dies nicht.

Die Karte von Pangaea mit einer unwirtlichen und einer noch unwirtlicheren Region, in der Lystrosaurus lebte.
Illustration: Megan Whitney/Christian Sidor

In Saus und Braus dürfte Lystrosaurus nirgendwo gelebt haben, auch nicht vor der globalen Katastrophe. Alle größeren Landmassen der Erde waren damals im Superkontinent Pangaea vereinigt, in dessen Innerem noch extremere Bedingungen geherrscht haben müssen als heute in Zentralasien. Aber schlimmer geht immer – und wo es besonders unwirtlich wurde, da konnte der ohnehin schon auf Genügsamkeit angelegte Lystrosaurus offenbar mit der Fähigkeit zum Winterschlaf auf einen zusätzlichen Überlebenstrick zurückgreifen. So gedieh er in einer der lebensfeindlichsten Phasen der Erdgeschichte prächtig.

Tiere wie Lystrosaurus wurden einmal als "säugetierähnliche Reptilien" und als "primitiv" bezeichnet. Doch Whitney betont mit Verweis auf ihre Untersuchungsergebnisse, dass die Welt vor einer Viertelmilliarde Jahren der heutigen in vielen Punkten ähnlicher war, als man früher gedacht hätte. Die gemeinsame Verwandtschaft von Lystrosaurus und uns, die Synapsiden, dürfte schon recht früh "moderne" Merkmale wie ein Fell oder Endothermie (also "Warmblütigkeit") hervorgebracht haben, wie Studien aus der jüngeren Vergangenheit nahelegten. Die Fähigkeit zum Winterschlaf würde da gut ins Bild passen.

Zugleich ist sich die Forscherin sicher, dass auch viele andere Urzeittiere, die in extremen Breiten lebten, eine Art Winterschlaf halten konnten – ob Säugetierverwandte oder auch Dinosaurier. Das einzige Problem: Sie hatten nicht diese praktischen, ein Leben lang weiterwachsenden Zähne, die es verraten würden. (jdo, 13.9.2020)