Vor knapp 150 Jahren herrschte Chaos am Börseplatz. Am 9. Mai 1873 brachen die Kurse an der Wiener Wertpapierbörse ein. Die Durchschnittsnotierung sackte von 339 Punkten auf 196 Punkte ab. Der Kurstiefststand wurde 1876 erreicht, 105 Punkte. Der Gesamtverlust belief sich auf 1,5 Milliarden Gulden, grob umgerechnet etwa acht Milliarden Euro. 48 Banken, acht Versicherungsgesellschaften und 60 Industriebetriebe gingen Konkurs. Der börsenspielsüchtige Erzherzog Ludwig Viktor verlor 200.000 Gulden. Die Selbstmordrate stieg sprunghaft an. Hunderte gingen in die Donau.

Eine Demonstration gegen Antisemitismus und rechte Gewalt in Hamburg am 12. Oktober 2019.
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Die Schuldigen am Börsenkrach? Natürlich die Juden. Der Satiriker und Antisemit Franz Friedrich Masaidek warf das Traktat Wien und die Wiener aus der Spottvogelperspektive auf den Markt. Die Ringstraße tauchte darin als "Schwindelring mit seinen zahllosen Banken, Börsenkomptoirs und ähnlichen Geldschnap-Geschäften" auf. Maisadek gründete mit Georg Ritter von Schönerer den antijüdischen Deutsch-Nationalen Verband. Schönerer war einer der rabiatesten Verfechter völkisch-rassistischer Theoreme. Er forderte die Abschaffung des christlichen Kalenders und eine neue Zeitrechnung. Deren Nullpunkt: das Jahr 113 vor Christi Geburt, als in der Schlacht von Noreia in der Provinz Noricum – einen Großteil des heutigen Ostösterreichs und Westungarns umfassend – die Römer von den Kimbern und Teutonen geschlagen wurden.

Sigmund Freuds Enttäuschungen

1924 dann schaute ein Gelehrter fünfzig Jahre zurück, noch immer fühlte er stolze Vereinsamung und herbe Zurückweisung. "Die Universität, die ich 1873 bezog", schrieb Sigmund Freud, "brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, dass ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das Erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern."

Neun Jahre nach seinem Studienbeginn, am 11. Februar 1882, hatte sich in Wien der Antisemitische Österreichische Reformverein konstituiert. "Hinaus mit den Juden!" lautete das Motto der Greißler, Handwerker und Akademiker. Ihre Zeitung Volksfreund gab das Kommando "Kauft nur bei Christen!" aus. Am 1. April 1933 wurde dieses Motto, abgewandelt zu "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!", in Nazi-Deutschland an Fenster und Türen von Geschäften geschmiert.

Doch dieser Cantus firmus wurde früh schon angestimmt. Und er erschallt bis heute, seit rund 2300 Jahren. Um das Jahr 300 v. Chr. versuchte Haman, Ratgeber des persischen Königs, der über ein Vielvölkerreich herrschte, die totale Auslöschung aller Juden im Imperium durchzusetzen. Wieso? Die Juden würden nach absonderlichen und befremdlichen Gesetzen leben, sich wider die Landesgesetze wenden, ja die eigenen über die des Landes stellen, die "schlimmsten Verbrechen" begehen und außerhalb jedes Konsenses gütlichen wie zivilisierten Zusammenlebens sein. Esther, Gattin des Regenten und Jüdin, durchkreuzte diese Pläne. Das biblische Buch "Esther" dokumentierte eines: die erstmals angedachte, weit über Neid oder Feindschaft hinausgehende Komplettauslöschung des jüdischen Volkes, der Verbrechen gegen die Menschheit und die Menschlichkeit geziehen.

Perpetuieren von Vorurteilen

Peter Schäfer, Ordinarius für Judaistik, viele Jahre an Universitäten in Berlin und in Princeton in den USA tätig und akademisch preisgekürt, trat im vergangenen Jahr vom Posten des Leiters des Jüdischen Museums Berlin zurück. Seit 2014 hatte er amtiert. Grund seiner Demission: Vorwürfe ob kommunikativer Nähe zu ideologisch entgleisenden Tweets mit vehement kritisierter Nähe zu Positionen der antiisraelischen, mehr als nur partiell antisemitisch aufkreischenden BDS-Aktivistenbewegung. Bemerkenswert ab der Einleitung ist: Schäfer beharrt vertiefend vor allem auf dem frühen und hartnäckig ausgeprägten Antisemitismus des Christentums.

Dieses "Weiterwirken" sei, so Schäfer, unabhängig, wie christlich oder wie säkular ausgerichtet eine Gesellschaft, ein Land sei. Entscheidend sei nicht der Grad des Glaubens, sondern das ungebrochene Perpetuieren von Vorurteilen und religiöser Stereotype. Siehe Polen, wo die jüdischen Gemeinden zusammen gerade einmal geschätzt 8000 bis 12.000 Mitglieder zählen, dazu noch einige mehr, die sich nicht religiös organisieren. Und doch ist im erzkatholischen, vor allem im ländlichen Polen tiefsitzender Judenhass mit Händen zu greifen und verwunderlich hoch. Verwunderlich, weil kaum jemand dort einen Juden kennt noch jüdisches Leben.

Konzis navigiert Schäfer, nüchterner Stilist, verpflichtet dem Informieren und nicht dem Verzeichnen, in Kurze Geschichte des Antisemitismus durch die Jahrtausende. Sichtlich wohler fühlt sich der Spätantike- und Mittelalterfachmann in ebendiesen Zeiten als in der Neuzeit und bei jüngeren, immer brutaleren Ausprägungen des Antisemitismus. Diese Bezeichnung war ohnehin eine Erfindung erst des 19. Jahrhunderts, das sich nach 1848 für ein ganzes Jahrhundert in Nationalismus und rasend völkermordenden Rassismus warf.

Österreichischer Antisemitismus

Ebenso gut und solide informierend, wenn auch gelegentlich in akademisch zähen Jargon verfallend und gern mit vielen Fußnoten verziert, sind die Beiträge im Sammelband Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft, herausgegeben von Nikolaus Hagen, tätig am Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien in Wien, und Tobias Neuburger, Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck.

Der Antisemitismus der anderen war in Permanenz ein österreichischer Antisemitismus. Es gibt hier auch Beiträge, die eher binnenfachspezifisch anmuten, etwa eine Interpretation der Interpretation von Hannah Arendts Schriften durch die Philosophin Judith Butler. Aufschlussreich hingegen sind die Aufsätze über Antisemitismus unter seit 2014 Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, über Hamas, Al-Kaida und den "Islamischen Staat" und deren fundamentalistisch-pathologische Israel-Feindschaft, über Palästina-Solidarität in muslimischen Gemeinden in Frankreich, über Antisemitismus in Berufsausbildung und Pädagogik, hier vorgeführt am Praxisbeispiel Berufsschule, inklusive praktischer Rat- und Vorschläge.

Antisemitismus – eine Angelegenheit nur von Juden, für Juden? Deborah Lipstadt, die seit einigen Jahren Moderne Jüdische Geschichte an der Emory University in Atlanta, Georgia, USA, lehrt, verneint dies vehement, denn "schon die Existenz von Vorurteilen, in welcher Form auch immer, bedroht all jene, die eine inklusive, demokratische und multikulturelle Gesellschaft wertschätzen. Es liegt auf der Hand, dass sich auch andere Minderheiten nicht sicher fühlen sollten, wenn Juden mit hasserfüllten Parolen und Vorurteilen angegriffen werden; dass es bei den Juden bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Und umgekehrt sollten sich Juden nicht sicher fühlen, wenn andere Minderheitengruppen mit Hass und Vorurteilen überzogen werden; es ist genauso unwahrscheinlich, dass es bei diesen Gruppen bleibt."

Lipstadt, die einst vom notorischen Holocaust-Leugner David Irving geklagt wurde und vor Gericht obsiegte, hat ihr Buch, jetzt als Paperback aufgelegt, dialogisch aufgebaut. Dieses Frage-Antwort-Muster über Ressentiments, Vorurteile, Unwissen und Verschwörungssuaden, analog wie digital, macht die Lektüre zugänglicher, auch und erst recht für Jüngere.

Gehe hin und lerne

Um so bedrohlicher auf Jüngere dürfte allein schon der Umfang der Geschichte des Judentums des Oxforder Judaisten Martin Goodman wirken. Bis heute sind ja deutschsprachige Verlage der Übersetzung von Sir Simon Schamas zweibändiger Historie des Judentums The Story of the Jews erfolgreich ausgewichen. Ebenso klug wie diese ist Goodmans Band, trefflich geeignet, ins Judentum einzuführen, in Glaube, Kultus, Gesellschaft. Zudem ist der hochgelehrte Goodman ein unterhaltsamer Erzähler. Dieses gewaltige, gehaltvolle Buch ist Pflichtlektüre. Pflicht und Kür in einem, um sich mit den scheinbar unzerstörbaren, jede Generation von neuem präsentierten Stereotype und Klischees, verstörenden Falschannahmen und verheerenden Verschwörungshypothesen auseinanderzusetzen. Und viel zu lernen. Komplexe Bezüge, komplizierte Wissensdeutungen, die Bandbreite des Judentums wird in Goodmans imposanter Überschau von mehr als drei Jahrtausenden deutlich und unübersehbar. Merkwürdig, dass die britannischen Inseln wissenschaftshistorisch so gerne große Panoramen offerieren, sei es Cyrien Broodbank mit seiner meisterhaften Geburt der mediterranen Welt (952 Seiten) oder Norman Davies’ Globalgeschichte Ins Unbekannte (890 Seiten). Steckt dahinter ein anderes Bild einer aufgeklärten Leserschaft als hierzulande?

Der Rest ist Auslegung

Eines kann allerdings nur schwer mit diesem Buch gemacht werden – es in einer Hand halten, während man auf einem Bein balanciert. Denn darum wurde einst Hillel der Ältere gebeten, ein Rabbiner, der im ersten Jahrhundert vor Christus lebte. Gefragt, die gesamte Lehre und die Essenz des Judentums zu formulieren, während er auf nur einem Fuße steht, lautete seine bündige Antwort: "Was dir zuwider ist, das tue auch deinem Nächsten nicht; das ist die ganze Tora insgesamt, der Rest ist Auslegung; gehe hin und lerne." Ein sozialer wie friedlicher Ratschlag gegen untergriffig rabiaten Antisemitismus in jeglicher Form, Art und Weise. (Alexander Kluy, Album, 5.9.2020)