Wie das Gehirn unser Bewusstsein hervorbringt, ist immer noch eines der größten Rätsel der Neurowissenschaften. Anscheinend sind wir uns unserer Umgebung jedoch nicht fortlaufen so bewusst, wie wir meinen.

Illustr.: SciTechTrend

Ist das menschliche Bewusstsein ein Kontinuum, also zu jedem beliebigen Zeitpunkt aktiv, oder tritt bewusste Wahrnehmung nur in bestimmten Momenten in Erscheinung, wie eine Kamera, die eine Serie von Einzelaufnahmen schießt? Seit der christliche Theologe und Philosoph Augustinus von Hippo an der Schwelle zwischen Antike und Frühmittelalter vor 1.500 Jahren über den Ursprung des Bewusstseins brütete, wird über diese Frage diskutiert. Möglicherweise ist ja beides der Fall, so paradox das auch zunächst klingen mag: Schweizer Forscher vermuten anhand eines neuen Modells, dass unser Bewusstsein eine Kombination aus kontinuierlichen Phasen und Einzelmomenten der Wahrnehmung von Informationen ist.

Bewusstsein ist kein Film

Aufgrund der abstrakten Natur des Bewusstseins kämpfen Wissenschafter damit, bewusste und unbewusste Wahrnehmung zu definieren. Was wir allenfalls wissen, ist jedoch, dass eine Person von Bewusstlosigkeit zu Bewusstsein wechselt, wenn sie morgens aufwacht. "Bewusstsein ist im Grunde wie ein Film. Wir glauben, wir sehen die Welt so, wie sie ist, als lückenlose Abfolge – aber das kann nicht wirklich die Wahrheit sein", meint Michael Herzog von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in der Schweiz, Erstautor der im Fachjournal "Trends in Cognitive Sciences" präsentierten Studie. "Veränderungen können nicht augenblicklich festgestellt werden. Sie können erst wahrgenommen werden, nachdem sie stattgefunden haben."

Die meisten Philosophen stimmen dennoch eher der Idee einer kontinuierlichen bewussten Wahrnehmung zu, hauptsächlich weil das der grundlegenden menschlichen Intuition folgt. "Immerhin haben wir das Gefühl, dass wir zu jedem Zeitpunkt bewusst sind", so Herzog. Dass das nicht ganz stimmen kann, ergibt sich unter anderem aus früheren Studien: Experimente haben beispielsweise gezeigt, dass rote Punkte auf einem Bildschirm, denen Sekundenbruchteile später an derselben Stelle grüne Punkte folgen, von Testpersonen als gelbe Punkte wahrgenommen werden. Wäre die Hypothese des kontinuierlichen Bewusstseins wahr, würde man tatsächlich zuerst den roten und dann den grünen Punkt wahrnehmen, meint Herzog.

Das Beste aus zwei Welten

Aber auch das weniger populäre Konzept, dass das menschliche Bewusstsein eine Serie einzelner Informationverarbeitungen ist, erweist sich als nicht wirklich befriedigend: Wäre beispielsweise unser Gehirn jede halbe Sekunde damit beschäftigt, Informationen zu verarbeiten, wäre es praktisch unmöglich, auch nur die einfachsten Aufgaben wie Fahrradfahren zu erledigen.

Um diesem Dilemma zu entkommen, haben Herzog, seine Kollegin Leila Drissi-Daoudi und sein Kollege Adrien Doerig daher die Vorteile beider Hypothesen zu einem neuen zweistufigen Modell vereint. Grundlage ihrer Theorie ist die Annahme, dass das Gehirn annähernd kontinuierlich während bis zu 500 Millisekunden langen Intervallen Informationen aufnimmt und verteilt, immer wieder unterbrochen von lichten, bewussten Momenten. Während der unbewussten Phasen verarbeitet das Gehirn die verschiedenen Elemente einer Situation und analysiert sie in vielen unterschiedlichen Regionen.

Fahrrad fahrender Zombie

Einige Gehirnareale beschäftigen sich mit Farben, andere mit der Form und Position von Objekten, wieder andere mit den übrigen Sinneseindrücken. Schließlich werden diese Informationsschnipsel ausgetauscht und zusammengeführt. Erst wenn die unbewusste Verarbeitung abgeschlossen ist, poppt die bewusste Erfahrung von all dem, was vor uns liegt, mit einem Mal auf. "Mit anderen Worten: Sie müssen Informationen kontinuierlich verarbeiten, können diese jedoch nicht kontinuierlich wahrnehmen", sagt Herzog.

Die Forscher veranschaulichen das mit einem Beispiel aus der Alltagserfahrung: Wenn wir mit dem Rad fahren, geschieht dies großteils unbewusst. "Es ist gleichsam der Zombie in uns, der unser Fahrrad antreibt – ein unbewusster Zombie mit einer hervorragenden räumlichen und zeitlichen Auflösung", sagt Herzog. "Die Wahrnehmung über unsere Umgebung wird laufend aktualisiert, unser bewusstes Selbst arbeitet nur mit diesen Aktualisierungen."

Informationsverarbeitung von außen manipulieren

Ihr zweistufiges Modell könnte nicht nur ein jahrhundertealtes philosophisches Problem lösen, sondern auch in anderen Disziplinen für Fortschritte sorgen, so die Wissenschafter. "Weil wir damit diese zusätzliche Zeitdimension erhalten, um Probleme zu lösen, könnte unser Ansatz auch Herangehensweisen in den Neurowissenschaften, in der Psychologie und möglicherweise auch in der Bildverarbeitung beeinflussen."

Auch praktischen Nutzen sieht Herzog am Horizont: Das neue Modell könnte Möglichkeiten eröffnen, die Art und Weise zu manipulieren, wie das Gehirn Informationen wahrnimmt. Während der Intervalle unbewusster Verarbeitung, in denen Details über die Umwelt im Gehirn gespeichert werden, könnte man etwa mithilfe von magnetischen Impulsen von außen Einfluss auf diese Details nehmen und damit auch auf die Wahrnehmung der Welt um uns herum.

Vieles bleibt ungewiss

So plausibel das Modell auch ist, es bleiben freilich immer noch viele wichtige Fragen unbeantwortet: Wie werden die bewussten Momente integriert? Was löst die unbewusste Verarbeitung aus? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesen unbewussten Intervallen und Persönlichkeit, Stress oder Krankheiten wie Schizophrenie? Und nicht zuletzt: Wofür wird Bewusstsein überhaupt benötigt? "Von all dem haben wir vorerst noch keine Ahnung", räumt Herzog ein. (tberg, 6.9.2020)