Wer die Welt nicht mehr versteht, dem fehlt der Durchblick, und wem es so geht, der muss mal einen Perspektivwechsel vornehmen. Das gilt umso mehr, als die Wissensgesellschaft keinen Aufschub mehr duldet. Die alte Welt der Industrie- und Konsumgesellschaft hat für viele ihren Sinn verloren. Doch eine neue Perspektive ist mehr als das Weglassen der alten. Weil Wissen, nach Konrad Paul Liessmann, nur ist, was man verstanden hat und erklären kann, sollte man dabei nicht auf Wunder warten. Sondern erst mal das, was man weiß, sortieren und für andere zugänglich machen. Jede Sinnsuche beginnt mit einer anständigen Inventur. Einrichten kann und soll sich dann jede und jeder selbst.

Wissensgesellschaft bedeutet, sich von einem Zusammenhang – der Einheit – abzuwenden und Zusammenhänge – die Vielfalt – zu erkennen.
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Die Zusammenhänge, von denen der austroamerikanische Ökonom Peter Drucker, Pionier der modernen Managementlehre, hier redet (siehe auch Zitat), bringen den Durchblick dann wieder, wenn wir uns in dem üben, was ich Kontextkompetenz nenne.

Was soll das sein? Ganz einfach: Es ist die Fähigkeit, das, was man kann und weiß, wieder mit ganzer Kraft anderen zur Verfügung zu stellen, sein Wissen zu teilen, Barrieren abzubauen und damit die Grundlage für neues Wissen zu legen. Das ist in einer Welt der Netzwerke, in der Unternehmen und Beziehungen immer wieder neu gedacht werden, eigentlich ganz logisch. Man muss sich kenntlich machen, klar und deutlich sein und braucht dazu ein Bildungssystem, in dem es vor allen Dingen darum geht, die Werkzeuge und Eigenschaften für diesen neuen Humanismus zu vermitteln.

Wissen ist für Fachidioten

Wissen ist heute oft etwas für Fachidioten, Experten, Leute, die in Silos denken. Der ehemalige Siemens-Chef Heinrich von Pierer stöhnte schon vor Jahren angesichts der vielen zueinander inkompatiblen Nischen seines Konzerns: "Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß!" Das gilt eigentlich heute für nahezu jede Organisation. Selbst in kleinen Einheiten weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Und dann wird drübergemanagt, was das Zeug hält – Bullshit in Wort und Bild sind programmiert. An Boden gewinnt ein Dumm-Management, das im Vermeiden und Reduzieren von Komplexität die Lösung aller Probleme erkennt. Falscher kann man nicht liegen. Der Versuch des geistigen Einkochens, des Vereinheitlichens, er scheitert täglich. Aber wir haben uns so an den Aberglauben der Komplexitätsreduktion gewöhnt, dass wir gar nicht mehr merken, wer fürs Chaos wirklich verantwortlich ist: das Fehlen von Kulturtechniken und Grundlagenwissen, das Komplexität erschließt, statt sie zu fürchten.

"Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen." Peter F. Drucker

Zusammenhänge sind nicht einfach nur die Mehrzahl von Zusammenhang. Sie sind das Gegenteil davon. Der Zusammenhang ist jener Glaube an die Einheit, das Universalistische, die Gleichheit, die das Abendland so stark geprägt hat. Ein Gott, eine Partei, ein Volk, eine Gesellschaft, ein Team, eine Haltung, eine Meinung. Es ist das Identitäre, das uns allen in den Knochen steckt. Denn genau dazu führt jede Form des Universalistischen – zu Alternativlosigkeit.

Wissensgesellschaft aber bedeutet, sich von einem Zusammenhang – der Einheit – abzuwenden und Zusammenhänge – die Vielfalt – zu erkennen. Die neue These zur Transformation, ganz gleich, ob es dabei um Energie, Klima, Gesellschaft und Wirtschaft geht, lautet: Bisher wurde Komplexität nur verschieden reduziert, es geht aber darum, sie zu erschließen.

Und weiter: genau jene unsichtbaren und vielfach unbewussten Begrenzungen und Normen unserer Kultur zu erkennen, die uns davon abhalten. Vom Zukunftsforscher John Naisbitt stammt das so treffende Bonmot, dass wir alle "nach Wissen dürsten, aber in Informationen ertrinken". Das ist richtiger als je zuvor. David Foster Wallace hat uns ein Gleichnis hinterlassen, bei dem klar wird, worum es geht. Da begegnen zwei junge Fische einem alten Fisch, der sie freundlich grüßt und fragt: "Na Jungs, wie ist das Wasser heute?" Die beiden schauen ganz erschrocken und schwimmen gruß- und wortlos weiter. Nach einer Weile sagt ein Jungfisch zum anderen: "Was zum Teufel ist Wasser?"

Context is King

Wir ertrinken in Informationen, weil uns schlicht das Wissen ums "Wasser" fehlt, die Art und Weise, wie man in Vielfalt und Komplexität schwimmt – und noch schlimmer: Viele wissen noch nicht einmal von der Existenz dieser grundsätzlichen Ressourcen der Wissensgesellschaft. Im 21. Jahrhundert ist also Schwimmunterricht angesagt. Wie halten wir uns in der Welt der Netzwerke und Möglichkeiten nicht nur über Wasser, sondern bestimmen auch noch die Richtung, in der wir uns bewegen?

Als das Internet durch das World Wide Web, das Kind des Programmierers Timothy Berners-Lee, zum Laufen gebracht wurde, gab es bald den Satz: Content is King. In den Netzwerken werden aber ständig neue Beziehungen eingegangen. Sie dauern nicht ewig, manche nur eine Transaktion lang. Aber sie sind um nichts weniger wert als jene scheinbare Dauerhaftigkeit, die unsere Kultur uns so nahelegt. Die Netzwerkbeziehungen existieren, wie ihre Ökonomie, jeweils. Es sind Gespräche, die wir anlassbezogen führen, Dialoge, bei denen wir immer neue Zusammenhänge entwickeln. Nun gilt: Context is King. Mach klar, was du tust und was das für andere bedeutet. Lernen durch den Dialog. Rechthaberei ist von gestern. Zusammenhänge brauchen mindestens zwei.

Wer den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, sollte vielleicht mal gucken, wie viele alte Bretter die freie Sicht auf die Welt vernagelt haben.

Wir Entfremdeten haben uns daran gewöhnt, unser Wissen nicht mehr zu teilen, es nicht mehr auf seine Nützlichkeit für andere hin zu hinterfragen. Das Dogma, der innere Vatikan, er ist heute überall, in jedem, in jeder, und wer sich für offen hält, muss es noch lange nicht sein. Was müssen wir wissen?

Oft fehlt der Durchblick

Systemrelevant ist dabei mindestens die Fähigkeit der Kenntnis, wie unsere westliche Kultur tickt und wo sie uns in die Irre führt. Weiters geht es um ein Verständnis und Kenntnisse in der Ökonomie, die grade bei geistes- und sozialwissenschaftlichen Eliten fehlen – ganz ähnlich wie das Wissen um Technik, insbesondere der Digitalisierung, die für viele eine Blackbox ist, die sie mangels technischer Allgemeinbildung nicht öffnen können. Auch den Digital Natives fehlt der Durchblick, umso mehr, zeigt die Erfahrung, als sie vom Gegenteil überzeugt sind. Das gilt ja auch für Firmen, Parteien, Gemeinschaften, also allen Organisationen. Sie sind auf der Grundlage von Hierarchien und informeller Mauschelei errichtet. Es wird Zeit, sie im Sinne der Selbstbestimmung, der Handlungsgrundlage der Wissensgesellschaft, neu aufzustellen.

Die Voraussetzung dafür ist eine Bildung, die den Zauber des Humanismus wiederentdeckt und für die Wissensgesellschaft zugänglich macht, also das, was Stefan Zweig über den größten Humanisten Europas, Erasmus von Rotterdam, geschrieben hat, dessen "Lebenssinn die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität" war, die Überwindung der Polarisierung und Rechthaberei, die uns heute lähmt und spaltet. Wir verstehen die neue Welt nur dann, wenn wir nicht manipulieren, sondern verstanden werden wollen. Das führt zu jener "Gemeinschaftlichkeit qua Gleichartigkeit", von der François Jullien spricht. "Nur wenn es uns gelingt, ein Gemeinsames zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinschaft aktiv sein." Das jeweils Ganze besteht also aus dem jeweils Verschiedenen.

Sozial ist, was Vielfalt schafft. Und das ist die Kernkompetenz des 21. Jahrhunderts. (Wolf Lotter, 9.9.2020)