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Seit Juli fordern Demonstrierende in Bulgarien, dass das Recht für alle Bürger gelten soll. Reiche und Einflussreiche sollen es sich nicht länger richten können.

Foto: AP Photo/Valentina Petrova

Plötzlich tauchten Fußballhooligans auf, die sich mit der Polizei gewaltsame Auseinandersetzungen lieferten. In der Nacht auf Donnerstag wurden 126 Personen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia festgenommen. Viele Demonstranten, die seit Anfang Juli für mehr Rechtsstaatlichkeit in dem Balkan-Staat auf die Straße gehen, denken, dass mit dem Auftauchen der Hooligans die gesamte Protestbewegung diskreditiert werden sollte.

Unter den Festgenommenen waren auch akkreditierte Journalisten wie Dimitar Kenarov, dem die Polizei ins Gesicht trat, obwohl er sich mehrmals als Presse-Mann auswies. Die Verletzungen sind in seinem Gesicht zu sehen. Trotz der Polizeigewalt haben Demonstranten nun wieder Zelte an Straßenkreuzungen errichtet, die aber bei manchen Bürgern unbeliebt sind, weil sie seit Wochen für Verkehrsstaus sorgen.

Der Oppositionsführer Hristo Ivanov von der liberalen Reform-Partei "Ja, Bulgarien" sagt dem STANDARD, dass die Polizeigewalt nicht von unabhängigen Behörden untersucht werden könne, weil es solche einfach nicht gäbe. Der Jurist, der im Jahr 2015 kurzzeitig Justizminister war, bevor er zurücktrat, weil er keine Möglichkeit sah, Rechtsstaatsreformen durchzusetzen, fordert vor allem den Rücktritt von Generalstaatsanwalt Ivan Gešev. Dieser verkörpert in Bulgarien die Instrumentalisierung der Justiz durch politische und wirtschaftliche Interessen.

Keine Rechtsstaatlichkeit

Anders etwa als in Rumänien gab es in Bulgarien auch rund um den EU-Beitritt niemals tiefgreifende Reformen im Justizbereich, sodass viele Vergehen oder Verbrechen gar nicht untersucht werden. Andererseits aber nützen die Staatsanwälte Untersuchungen dazu, missliebige Leute – etwa im Medien- oder im Wirtschaftsbereich – zu kontrollieren. "Einerseits sind manche Leute wie Premier Bojko Borissov offenbar immun. Die Staatsanwaltschaft beginnt nicht einmal Untersuchungen, trotz Verdachtsmomenten", sagt Ivanov dem STANDARD, "andererseits werden Untersuchungen gegen jene angedroht, die man in Schach halten möchte. Diese Leute wissen, dass es vier Jahre braucht, bis sie auf gerichtlichem Weg ihre Unschuld beweisen können", erklärt er das System aus Drohung und Erpressung.

Von der EU fühlt sich Ivanov schon lange im Stich gelassen. Die EU-Kommission, die Venedig-Kommission und der Europarat empfehlen zwar seit ewig Justizreformen, doch die Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, die auch mithilfe der bulgarischen Regierungspartei Gerb, die zur Europäischen Volkspartei EVP gehört, ihren Posten bekam, unterstützt Borissov.

Ivanov macht aber darauf aufmerksam, dass alle EU-Europäer, auch Österreicher oder Deutsche, Steuergeld an korrupte bulgarische Strukturen verlieren, solange die EU nicht dafür sorgt, dass die Justiz ihren Job macht. "Die EU-Kommission ist als Hüterin der Verträge dazu verpflichtet, ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit für alle EU-Bürger zu garantieren", betont er.

Steuergeld der Österreicher

Es gehe nicht nur um bulgarische Bürger, die keine Chance auf Gerechtigkeit haben, sondern um die gesamte EU. "Wenn es nicht gelingt, mit diesen neuen autoritären Regimen in Osteuropa adäquat umzugehen, wird ganz Europa darunter leiden", warnt er vor Inkonsequenz.

Der ehemalige Bodyguard Borissov könne sich gar keine Welt vorstellen, in der es tatsächlich eine unabhängige Justiz gibt, meint Ivanov. "Borissov ist besonders anfällig für Erpressungsversuche, weil er schon so lange Zeit Teil des Systems ist." Ivanov erinnert sich an ein Gespräch mit dem Premier, als er selbst 2015 Justizminister war. "Er brauchte mich, weil ich in Brüssel ein positives Image hatte, aber er wollte keine Reformen", erzählt er dem STANDARD. "Er sagte zu mir: "Greif die Staatsanwaltschaft nicht an." Borissov sei nur unter einer einzigen Voraussetzung bereit gewesen, Reformdruck auszuüben – und zwar dann, wenn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dies von ihm verlangt hätte.

Ivanov fordert vor allem, dass die Strukturen in Bulgarien so reformiert werden, dass sich der Generalstaatsanwalt verantworten muss. "Es braucht diese demokratische Rechenschaftspflicht, auch weil die anderen Staatsanwälte total von ihm abhängig sind." Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits in einem Urteil im Jahr 2009 festgestellt, dass es in Bulgarien nicht möglich ist, den Generalstaatsanwalt selbst zur Verantwortung zu ziehen. (Adelheid Wölfl, 5.9.2020)