Herr M. macht sich Vorwürfe. Wenn seine Frau und er nicht in die Heimat der Eltern gegangen wären, dann ... Wenn er nicht ein knappes Jahr später wieder zur Rückkehr nach Österreich gedrängt hätte, dann ... Wenn er früher gewusst hätte, was der Besuch einer Deutschförderklasse für seine beiden Kinder bedeutet, dann ...

Die Wenn-dann-Sätze und die Bearbeitung ihrer Auswirkungen sind zermürbend. Jetzt steht Kind 1 vor der Wiederholung der vierten Klasse Volksschule. Und auf Kind 2 wirken die Eltern mit einer Mischung aus vorgeblich harmlosen Motivationsversuchen und verzweifeltem Druck ein, damit es das Mika-D genannte Sprachscreening im Herbst doch noch auf einem Niveau schafft, das es ihm ermöglicht, aus der Deutschförderklasse in die Regelklasse zu wechseln. Dass die erste Klasse Volksschule wiederholt werden muss, scheint unabwendbar. Das Kind von Herrn M. sitzt dann mittlerweile zum dritten Mal hier.

Ahnungslos

Franziska Haberler kennt Herrn M. und seine Kinder nicht. Aber sie kennt die Kinder "mit a. o. Status" – außerordentlich also – und alleine die Begriffe, die hierzulande für all die Menschen mit ihren Erlebnissen und oft dramatischen Geschichten verwendet werden, irritieren sie: "Als ob die nicht ordentlich wären."Zehn Stunden pro Woche unterrichtet sie neben ihrer regulären Klasse an einer Wiener NMS 13 junge Menschen unterschiedlichen Alters, diverser Nationalitäten und Bildungshintergründe, die nicht wissen, was eine Alm oder was ein Elefant ist.

Ankommen in der Deutschförderklasse ist nicht immer leicht.
Foto: BARBARA GINDL

Dafür verstehen sie, wie sie in der Sprache der Bürokratie genannt werden: "Ausreichend", "mangelhaft" und "unzureichend" kann ihr Status sein. Hängt vom Lernfortschritt ab. Oder davon, wie kreativ die Lehrkräfte sind, um dem Kind die besten Bildungschancen zu bieten. Wenn beim Sprachscreening etwa das Verb nicht an der richtigen Stelle steht ("unzureichend"), Sprachverständnis und Redekompetenz aber so weit entwickelt sind, dass ein rascher Lernfortschritt abseits der reinen Deutschförderung erwartbar scheint – wohin dann am besten mit dem Kind?

Herr M. ist in Österreich geboren. Sein Deutsch ist fehlerfrei, mit Akzent. Wenn er an seine Schulzeit denkt, ist sie voll schöner Erinnerungen. Nicht nur er, auch viele seiner Freunde haben "es geschafft". Gute Jobs, einige mit abgeschlossenem Studium. Wien ist seine Heimat, er habe sie während des einjährigen Auslandsversuchs vermisst. Dass seine Kinder es hier besser haben würden, war schon bald nicht mehr wegzuschieben. Also übersiedelte Familie M. zurück nach Wien. Dass die Kinder, obwohl sie in Österreich bereits den Kindergarten beziehungsweise die Volksschule besucht haben, in einer Deutschförderklasse landeten, beunruhigte Herrn M. anfangs nicht. "Wir haben das gerne angenommen, mehr Förderung ist ja etwas Gutes." Was er allerdings nicht wusste: dass de facto der automatische Verlust eines Schuljahres damit einhergeht.

Franziska Haberler hat ihre "Nicht-Klasse" während der pandemiebedingten Unterrichtspause kaum noch erreicht. Im von der Bildungsdirektion eingerichteten Online-Kommunikationstool gab es die Kinder der Deutschförderklasse schlicht nicht: "Sie haben keine Teams-Gruppe zugewiesen bekommen", sagt Frau Haberler. Informationen an die Familien sollten über die Lehrkräfte der Stammklassen weitergegeben werden – so jedenfalls die Annahme der Schulverwaltung. Ob die allerdings je bei den Empfängern angekommen sind?

Allein und frustriert

Herr M. ist erst durch die Pandemie so richtig aufgewacht. Als der Bildungsminister verkündete, dass ein Aufstieg in die nächste Klasse de facto auch mit mehreren Fünfern möglich sei, fragte er in der Schule nach: "Wie ich auf diese Idee käme", bekam er zu hören – und findet seither ob seiner Sorgen kaum noch Ruhe. Herr M. ist sich sicher, viele in der "Community" hätten keine Ahnung davon, was die Aufnahme in eine Deutschförderklasse bedeute.

Wie sieht der Lernalltag in der Deutschförderklasse aus? Haberler erzählt von Kinobesuchen, Abstechern zum Spielplatz. "Ein Mal pro Woche kochen wir zusammen". Sport! "Alles, wo sie miteinander ins Reden kommen, ist gut", weiß die Linguistin. Was die Kinder außerdem bräuchten: Stabilität – also weniger als acht Lehrkräfte, wie das im vergangenen Schuljahr der Fall war. Stabilität könnte auch eine Klassengemeinschaft bieten, in der es kein ständiges Kommen und Gehen gibt. Besser ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen mit Sprachsensibilität – schon im Kindergarten. Ein weiteres Kindergartenpflichtjahr, aber ebenso verpflichtender Muttersprachenunterricht. Und vor allem Zeit, heißt: ganztägige Schulen.

Die Kinder von Herrn M. erlebten die Deutschklasse als unterfordernd, chaotisch. Raus ging es kaum. Keine Freunde, kaum Zuwendung von der Lehrerin der Regelklasse, sagt Herr M., sodass Kind 1 – zuvor kreativ, sozial, "eine Vorzeigeschülerin" – plötzlich gehänselt und zur Außenseiterin wurde.

Ob ihre Schülerinnen und Schüler ohne Deutschförderklasse besser lernen würden? Dafür sei das Sprachniveau an der Schule insgesamt zu schlecht. Für bessere Bildungschancen brauche es mehr, sagt Frau Haberler – das beginne bei der Ausbildung der Lehrkräfte ... (Karin Riss, 6.9.2020)