In Asien laufen die Häfen längst wieder auf Hochtouren, die Störung der Lieferketten ist laut Felbermayr "Vergangenheit".

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Die Wirtschaft hat sich über den Sommer deutlich von den Lockdowns erholt. Doch dass der Aufschwung im selben Tempo weitergeht, bezweifelt der Ökonom Gabriel Felbermayr. Er ortet eine tiefe Kluft in Europa. Das EU-Wiederaufbauprogramm ist eine Reaktion darauf, allerdings werden die Milliarden zum Stopfen von Budgetlöchern verwendet werden, meint der Experte. Er befürchtet Probleme, wenn notwendiger Strukturwandel in der Wirtschaft durch die Rettung nicht überlebensfähiger Firmen verhindert wird. Vor allem die Kurzarbeit unterbinde das Verschwinden veralteter Geschäftsmodelle.

STANDARD: Es gibt derzeit gemischte Konjunktursignale. Einerseits findet nach dem Corona-Einbruch eine deutliche Erholung statt, andererseits dämpft die Angst vor einer zweiten Infektionswelle die Stimmung. Wo stehen wir?

Felbermayr: Der Welthandel ist von März bis Mai so stark eingebrochen wie noch nie. Doch seither geht es dramatisch aufwärts, wir sehen eindeutig einen Konjunkturverlauf, der wie ein ganz spitzes V aussieht. Nach minus 25 Prozent im Frühjahr lag der Welthandel im Juni nur noch zehn Prozent unter dem normalen Niveau. Das unterscheidet die aktuelle Situation von der Lehman-Krise, in der der Aufschwung schleppender verlief und mehr einem U glich. Ich bin aber skeptisch, ob die Erholung in den nächsten Monaten weiter so stark sein wird. Wir könnten unter unseren Möglichkeiten bleiben, weil es ein Revival des Protektionismus gibt, weil Reshoring (Rückverlagerung, Anm.) subventioniert wird und andere Maßnahmen den Handel behindern. Ich denke eher nicht, dass wir beim Aufschwung das Tempo behalten können.

STANDARD: Wirken sich auch unterbrochene Lieferketten noch aus?

Felbermayr: Das ist Vergangenheit. Im Prinzip sind alle Fabriken wieder online, vielleicht noch nicht auf 100 Prozent. Warum auch? Es wird so getan, als hätten wir eine Systemkrise, die haben wir aber nicht. Corona ist wie eine Naturkatastrophe. Sie hat Fabriken für ein paar Wochen stillgelegt, und die laufen jetzt wieder wie vorher, die Häfen funktionieren, die Schiffe fahren. Anders läuft es allerdings in den Köpfen der Leute. Verwerfungen wie bei der Lehman-Krise haben wir derzeit aber nicht.

Kurzarbeit soll nur als Brücker zum anderen Ufer dienen, nicht in den Ozean hinein, sagt Felbermayr.
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STANDARD: In Europa sind Länder wie Italien besonders stark von Corona getroffen, die schon davor große Wettbewerbsfähigkeits- und Budgetprobleme hatten. Wie problematisch ist das für die Einheit der Union?

Felbermayr: Das Wachsen der Kluft ist schon da. Das hat auch die Rettungspakete der Europäischen Union motiviert. Angela Merkel hat sehr eindringlich erlebt, was es bedeutet, wenn Italien den Zugriff auf die Finanzmärkte verliert. Das war im März kurz der Fall, weil die Märkte Sorge hatten, dass Italien politisch und finanziell überfordert ist. Das hätte vermutlich dazu geführt, dass nach dem Brexit ein Italexit auf der Tagesordnung gestanden wäre. Das wollte man sich in Europa nicht vorstellen, schon gar nicht in Österreich und Deutschland als wichtigen Handelspartnern Italiens. Diese Kluft wird gesehen und erklärt die 390 Milliarden an Transfers, die am Ende des Tages vermutlich zum Stopfen von Budgetlöchern verwendet werden. Da muss man den ,frugal four‘, den sparsamen vier Ländern (zu denen auch Österreich gehört, Anm.) recht geben. Die Gelder werden für Industrie- und Infrastrukturprojekte, aber auch für die Rettung der Alitalia verwendet. Das muss uns klar sein. Das ist nicht Ökonomie, sondern Symbolpolitik.

STANDARD: Auffällig war die deutliche deutsche Position für mehr Solidarität, die gerade in der Kanzlerinpartei CDU für Unruhe sorgte.

Felbermayr: In der EU wird viel über die Bande gespielt. Die CDU hat mit der Merkel-Macron-Linie ihren Frieden gefunden, weil es den Sebastian Kurz in Wien gibt. Der deutsche Ex-Kanzler Helmut Kohl konnte große Deals mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand abschließen, weil es in Großbritannien eine Margaret Thatcher gab, die zu weitgehende Vereinbarungen verhinderte.

STANDARD: Die vielen Staatshilfen sorgen für immer mehr Debatten, ob – beispielsweise über verlängerte Kurzarbeit – ein notwendiger Strukturwandel behindert wird.

Felbermayr: Kurzarbeit, Aussetzung der Insolvenzanmeldepflicht und andere Maßnahmen waren in der heißen Phase der Krise richtig, werden aber zunehmend zu einem Problem. In jedem Aufschwung brauchen wir auch Creative Destruction (schöpferische Zerstörung, Anm.), weil man Ressourcen braucht, vor allem Talente. Wir können das fehlende Humankapital nicht einfach importieren. Je mehr Unternehmen wir mit billigen Krediten und Zuschüssen durch die Krise helfen, desto mehr Ressourcen fehlen dort, wo Wachstum erfolgen soll. Das gilt vor allem für die Verlängerung der Kurzarbeit. Da fragt man sich schon, wie das Verhältnis zwischen Mitnahmeeffekten und berechtigter Stabilisierung von Unternehmen aussieht. In Deutschland waren die Insolvenzen im Juli um mehr als zehn Prozent unter dem Vorjahr. Und das in einer Phase, in der es eigentlich mehr Insolvenzen geben müsste.

Wirtschaftsforscher Felbermayr berät den deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmaier.
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STANDARD: Aber hat nicht die Finanzkrise gezeigt, dass Kurzarbeit positive Effekte hat?

Felbermayr: Wenn die Firma mittelfristig eine positive Überlebenschance hat. Kurzarbeit macht nur Sinn als Brücke von einem Ufer zum anderen und nicht hinaus in den Ozean. Ob wir jemals wieder so viel reisen werden, ist fraglich. Oder denken Sie an die Digitalisierung und die Dekarbonisierung: Wir haben einen hohen Bedarf an Veränderung. Neue Geschäftsmodelle können nur entstehen, wenn die alten verschwinden. Wir machen sehr viele Programme, die diesen Wandel verhindern sollen. Diese Risiken sollte aber nicht der Steuerzahler übernehmen, sonst ergeht es uns wie in den 1980er-Jahren. Überkapazitäten in der Schwerindustrie wurden lange aufrechterhalten. Die Redimensionierung der Verstaatlichten erfolgte dann unter großen Schmerzen.

STANDARD: Aber abrupte Veränderungen bringen in der Regel auch viele Verlierer. Wie kann so eine Entwicklung verhindert werden?

Felbermayr: Das ist eine berechtige Sorge. Aber es sollen nicht Jobs, sondern Arbeiter geschützt werden. Daher müssen wir über Requalifizierung nachdenken und die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Langzeitarbeitslose immer wieder in denselben Excel-Kurse zu schicken war nicht die glorreichste Lösung. Daher sollte Kurzarbeitsgeld an Requalifizierung geknüpft werden, damit stärker in Humankapital investiert wird. Das und Selbstbehalte würden die Mitnahmeeffekte bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Stück weit reduzieren.

STANDARD: Viele Staaten setzen in der Krise auf den Schutz heimischer Betriebe, fördern sie und bewahren sie vor Übernahmen. Ist das der richtige Weg?

Felbermayr: Das sind protektionistische Tendenzen, die mit verlorengegangenem Vertrauen zu tun haben. Der Grund ist, dass Drittstaaten politische über kommerzielle Interessen stellen. Das ist das Gift, das Herr Trump in den letzten Jahren verspritzt hat. Ein gutes Beispiel ist der deutsche Impfhersteller Curevac: Das Gerücht, dass die USA einsteigen wollen, um Zugriff auf Corona-Impfstoffe zu erhalten, führte dazu, dass Deutschland eine Beteiligung erwarb.

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Um den deutschen Impfstoffhersteller Curevac gibt es ein großen Tauziehen.
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STANDARD: In Österreich gibt es Tendenzen, dem Semperit-Konzern den angestrebten Verkauf der Gummihandschuh-Sparte zu verbieten, obwohl die Produktion großteils in Malaysia angesiedelt ist. Ein aus Gründen der Versorgung berechtigter Schritt?

Felbermayr: Da ist schon die Frage, ob Semperit gezwungen werden soll, einen unprofitablen Bereich fortzuführen. Zudem ist unklar, ob die Versorgungssicherheit auf diese Weise verbessert werden kann. Malaysia könnte ja auch die Exporte von Gummihandschuhen einschränken. (Andreas Schnauder, 6.9.2020)