Ausgerechnet mit einem Postskriptum, das er zudem um etliche Jahre verspätet nachreicht, belebt Klaus Theweleit die Debatte über das Urverbrechen des Kolonialismus: Von dessen üblen Folgen zehren noch die Ermächtigungsbewegungen unserer Tage. Theweleits Reader "Warum Cortés wirklich siegte" enthält alle Elemente, um wiederum zum üppig illustrierten Handbuch für progressive Kulturkritiker zu avancieren.

Auf gut 600 Seiten soll ein weiterer "Quellcode" entziffert werden. Wie kam es dazu, dass eine winzige Abteilung verlauster Konquistadoren, angeführt von Hernán Cortés, das Riesenreich der Azteken niederstürzen konnte? Der Sieg der Spanier 1521 markiert die Überlegenheit "euroasiatischer" Technologie über die indigenen Völker beider Amerikas. Er fiel nicht etwa unverhofft vom Himmel; sondern er wurde durch evolutorische Schritte über Jahrtausende vorsichtig angebahnt.

Und so wird Theweleit, der Freiburger Privatgelehrte mit den längsten Fußnoten der Welt, seinerseits zum Homer: zum Mythenschmied, zum Weltgeisterfinder, der die Elemente des Fortschritts zusammenklaubt. Es gehört zu den anregenden Gelegenheiten eines Leselebens, Theweleit, den Schöpfer der folgenreichen "Männerphantasien" (1977/78), dabei zuzusehen, wie ihm, stellvertretend für uns alle, die Schuppen von den Augen fallen.

Was die "weißen Eroberer" dazu befähigt hat, den Rest der Welt zu unterwerfen, gehört in ein Programm, das alle Daseinsformen umfasst. Der eurozentrische Aufbauplan besteht aus zahlreichen Entwicklungsstufen. Sein Muster gleicht, darin der Entfaltung des Gehirns nicht unähnlich, der Anlagerung immer komplizierterer Verschaltungen.

Metallschmelze und Bronzeguss

Von der Haustierdomestikation führt der Weg erstaunlich geradlinig zur Metallschmelze und zum Bronzeguss. Die Anrainer des Mittelmeeres werden etwa 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung hochseetauglich. Und das griechische Vokalalfabet versetzt sie in den Stand, die Bedeutung von Lauten durch Differenzierung zu ermitteln.

Von da ist es nur noch ein Blinzeln, und der Leser gelangt auf hochmittelalterliches Festland. Etwa zu den Sakralbauten der Franziskaner, die in der Ausgestaltung ihrer Basiliken vor 1300 die Linearperspektive "erfinden". Fortan prägt die euklidische Geometrie unser Vorstellungsvermögen. Um den Vertretern christlicher Rechtgläubigkeit zu schmeicheln, erklären die Entdecker der Raumtiefe ihre spekulativen Gesichte kurzerhand zur Perspektive Gottes.

Der wahre Schöpfer der euroasiatischen Hochkultur muss Klaus Theweleit (78) zum Verwechseln ähnlich sehen. Er kommt vom Hundertsten ins Tausendste, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Bei diesem grundgütigen Gott ist die Abschweifung so viel wert wie der strenge Beweis.

Todbringende Viren

Theweleit spannt die bürokratische Verwaltung überseeischer Besitzungen (vulgo Kolonien) mit den modernen Berechnungstechniken in der Industriearbeit zusammen. Und doch verunklärt sich der Zweck seiner Beweisführung. Wäre den europäischen Weltumseglern im Zuge ihrer Landgewinnungen gar nichts anderes übrig geblieben, als indigene Völker durch Entsendung von Vorausabteilungen todbringender Viren zu dezimieren? Die "Kolonialismen" kommen bei Theweleit dann ins Spiel, wenn er die Techniken der Aneignung von Welt auf einen Dreifachschritt herunterbricht. Auf die "Segmentierung" der Wirklichkeitsausschnitte erfolgt deren "Sequenzierung". "Konzept" und Kalkül versetzen die eurasischen Herrenmenschen in die für sie glückliche Lage, immer voluminösere Datenmengen rasant zu verarbeiten.

Kein einziges Argument, das Theweleit auf seiner Tour d‘horizon ins Treffen führt, übertrifft jedoch die Einsichten Michel Foucaults in die Technizität jeglicher "Macht". Die Umdeutung technischer Prothesen und digitaler Implantate in Gegenstände einer "zweiten" Natur hat einen überaus langen Bart.

Die Lektüre dieser Technologiegeschichte vermag dennoch anzuregen. Wo Klaus Theweleit die "situative Identität" unserer Ich-Zuständigkeiten antippt, berührt er ein Wachstumsfeld. Und dass sein vierteiliger "Pocahontas"-Zyklus nunmehr vollendet ist, sollte sogar zu einer Relektüre seiner (neu aufgelegten) "Männerphantasien" anstiften. Den Schritt hin zu einer näheren Bestimmung unseres "Spaltungs-Ichs", das geteilt ist, um andere zu beherrschen, bleibt er uns schuldig. Dafür verwöhnt er mit Hinweisen auf Saturnbewohner wie den sternreisenden Jazzer Sun Ra. (Ronald Pohl, 7.9.2020)