Der Fall des inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange bewegt in London bis heute die Gemüter.

Foto: DANIEL LEAL-OLIVAS / AFP

Nach knapp sechsmonatiger Unterbrechung wegen der Corona-Pandemie geht am Montag das Auslieferungsverfahren gegen den prominentesten Häftling Großbritanniens weiter. Sollte der Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA abgeschoben werden, drohen ihm wegen Computerhackings und Spionage bis zu 175 Jahre Freiheitsstrafe. Das Hearing vor dem Londoner Magistratsgericht im berühmten Old Bailey wird auf mehrere Wochen veranschlagt.

Frage: Hat sich Assanges Situation zuletzt verändert?

Antwort: Die Haftbedingungen im Gefängnis Belmarsh vor den Toren Londons sind gleichgeblieben. Womöglich aber sieht die Öffentlichkeit den 49-Jährigen jetzt mit etwas anderen Augen. Denn kaum war im März der Lockdown verkündet worden, wandte sich eine Frau namens Stella Morris mit einer sensationellen Nachricht an Gericht und Gefängnisbehörden: Sie gehöre nicht nur zu Assanges Anwaltsteam, sondern sei darüber hinaus auch die Mutter seiner beiden jüngsten Kinder, des dreijährigen Gabriel und dessen 19 Monate alten Bruders Max.

Um die Gefahr durch Sars-CoV-2 im eng belegten Knast zu reduzieren, solle ihr Verlobter zeitweilig und mit entsprechender Überwachung bei ihr wohnen dürfen, forderte die 37-Jährige. Der Antrag wurde abgelehnt. Die bis dahin unbekannte Existenz einer Londoner Familie könnte dem Australier Assange aber noch zum Vorteil gereichen: Im englischen Recht spielt das Recht auf ein Familienleben eine wichtige Rolle. Hingegen wäre die Abschiebung in die USA "für Julian ein Todesurteil", glaubt Morris.

Frage: Wie konnte die Beziehung jahrelang geheim bleiben?

Antwort: Das hat die in Südafrika geborene Londonerin mit spanischem und schwedischem Pass jüngst in Interviews erläutert. Die Juristin, damals noch unter dem Namen Sara Gonzalez, reagierte 2011 auf einen Aufruf von Assanges langjähriger Anwältin Jennifer Robinson, die in dem mittlerweile eingestellten schwedischen Auslieferungsverfahren Hilfe brauchte. Dabei ging es um angebliche Sexualverbrechen Assanges gegen zwei Frauen in Stockholm im Sommer 2010.

Morris blieb auch Teil von Assanges Anwaltsteam, nachdem sich dieser 2012 der bereits beschlossenen Auslieferung nach Schweden durch die Flucht in die Londoner Botschaft Ecuadors nahe des Nobelkaufhauses Harrods entzogen hatte. Im Lauf der Jahre wurde aus dem professionellen Verhältnis eine Liebesbeziehung. Aus Furcht vor negativen Konsequenzen hielt das Paar beide Schwangerschaften vor Assanges Asylgebern geheim. Seinen jüngsten Sohn lernte der Journalist und Datenhändler erst im Gefängnis kennen.

Frage: Wie lauten die Vorwürfe gegen Assange?

Antwort: Wikileaks hatte 2010 und 2011, teilweise in Zusammenarbeit mit renommierten Medien wie New York Times,Guardian und Spiegel, US-Geheimdokumente veröffentlicht. Dadurch kamen Kriegsverbrechen amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und im Irak ans Licht. Assange soll die später wegen Geheimnisverrats verurteilte Soldatin Chelsea Manning zum Kopieren der 250.000 diplomatischen Depeschen angestiftet haben, Wikileaks bestreitet dies. Die Regierungen beider Länder begründeten ihre unerbittliche Verfolgung stets mit der "Gefährdung der Sicherheit" britischer und amerikanischer Staatsbürger in brisanten Ländern wie Iran, Irak, Pakistan und Afghanistan. Der jetzige demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden sprach damals als Vizepräsident von "Hightech-Terrorismus". Beweise dafür, dass die Veröffentlichung – wie behauptet – "Menschenleben gefährdet" habe, blieben die Behörden schuldig. Wegen der gezielten Leaks im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, die der demokratischen Bewerberin Hillary Clinton immer wieder Schaden zufügten, behauptete Donald Trump zunächst, er "liebe Wikileaks". Die Administration des amtierenden Präsidenten aber hat die Strafverfolgung gegen Assange eisern weiterverfolgt; im Juni wurde die Anklage wegen Computerspionage erweitert.

Frage: Wer unterstützt Assange?

Antwort: Seit Monaten machen auf beiden Seiten des Atlantiks altgediente Galionsfiguren der Linken, aber auch Künstler und Autoren mobil. Der 91-jährige Linguist Noam Chomsky pries Assanges Aktivitäten am Samstag als "allerbesten Journalismus": Es gelte, den Australier gegen eine "außer Kontrolle geratene Staatsmacht" zu verteidigen. "Wir müssen zusammenstehen", fordert die Schriftstellerin Alice Walker; Modelegende Vivienne Westwood protestierte im Sommer als "Kanarienvogel im Käfig" vor dem Gerichtsgebäude gegen die anhaltende Inhaftierung ihres "brillanten" Freundes.

Hingegen haben sich viele frühere Verbündete in den Medien mittlerweile von dem als schwierig geltenden Journalisten und Aktivisten abgewandt. (Sebastian Borger aus London, 7.9.2020)