Die belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa soll festgenommen worden sein.

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Moskau – Die belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa ist verschwunden. Sie ist nach Einschätzung des Koordinierungsrats der Demokratiebewegung entführt worden. "Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt", teilte das Gremium für einen friedlichen Machtwechsel am Montag in Minsk mit.

Die 38-Jährige sei zusammen mit ihrem Mitarbeiter Iwan Krawzow und ihrem Sprecher Anton Rodnenkow im Zentrum von Minsk von Unbekannten entführt worden. "Der Koordinierungsrat fordert die sofortige Freilassung", hieß es. Auch Krawzow und Rodnenkow seien nicht mehr erreichbar.

In Kleinbus gezerrt

Medien hatten zuvor unter Berufung auf eine Augenzeugin berichtet, dass Kolesnikowa in einen Minibus gesteckt worden sei. Die Behörden hätten noch keine Informationen über den Aufenthaltsort gegeben, teilte der Rat mit. "Wir sehen, dass die Behörden in den vergangenen Tagen begonnen haben, offen Terrormethoden anzuwenden, statt einen Dialog mit der Gesellschaft aufzunehmen."

Die Nachrichtenagentur RIA berichtete unterdessen, die weißrussische Polizei prüfe, ob Kolesnikowa entführt worden sei. Kolesnikowas Familie hat sich am Montagabend mit einer Vermisstenanzeige an die belarussische Polizei gewandt. Die Oppositionelle ist eine der wichtigsten Kritiker Lukaschenkos und gehört auch dem Koordinierungsrat an.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas forderte nun Auskunft über das Schicksal Kolesnikowas. "Wir sind in großer Sorge um Frau Kolesnikowa", sagte Maas der "Bild" laut Vorabbericht vom Montag. "Wir fordern Klarheit um den Verbleib und die Freilassung aller politischer Gefangener in Weißrussland (Belarus)." Das gleiche forderte am Montagabend der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Präsidentenkandidatin geflüchtet

Einige Mitglieder des Koordinierungsrates waren zuvor schon festgenommen worden, ausgereist oder zur Ausreise gezwungen worden, unter anderem die Präsidentenkandidatin Swetlana Tichanowaskaja. Diese war nach der umstrittenen Wiederwahl Lukaschenkos ins EU-Land Litauen geflüchtet.

Kolesnikowa arbeitet für den Ex-Bankenchef Viktor Babariko, der für das Präsidentenamt kandidieren wollte. Sie hatte viele Jahre in Stuttgart gelebt und von dort aus Kulturprojekte gemanagt. Sie trat immer wieder bei Protestaktionen auf und wurde dabei von den Demonstranten bejubelt. Bei der Großdemonstration am Sonntag in Minsk marschierte sie mit. Nach Angeben des Innenministeriums wurden dort insgesamt 633 Menschen festgenommen.

Tichanowskaja sprach nach dem Verschwinden Kolesnikowas von einem Versuch der Staatsführung, die Arbeit des Koordinierungsrates zu behindern. "Aber das wird uns nicht aufhalten", schrieb sie im Nachrichtenkanal Telegram. Je mehr die Behörden die Menschen einschüchterten, desto mehr würden auf die Straße gehen. Tichanowskaja nimmt am Dienstag (10.00 Uhr) per Videokonferenz an einer Sitzung des Europarats teil.

EU plant Sanktionen

Hintergrund der Proteste ist die Präsidentenwahl vor mehr als vier Wochen. Lukaschenko hatte sich danach mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären lassen. Die Opposition hält dagegen Tichanowskaja für die wahre Siegerin. Die Abstimmung steht international als grob gefälscht in der Kritik.

Die EU bereitet Insidern zufolge deswegen Strafmaßnahmen gegen 31 hochrangige Regierungsmitglieder und Behörden vor. Zu diesen gehöre der Innenminister Juri Karaew, wie die Nachrichtenagentur Reuters von drei EU-Diplomaten erfuhr.

"Wir hatten uns zunächst auf 14 Namen geeinigt", sagte einer von ihnen. "Aber viele Staaten waren der Meinung, dass dies nicht ausreicht. Wir haben jetzt einen Konsens über weitere 17 erzielt." Es handle sich um Verantwortliche für die Wahl, die Gewalt und das Vorgehen der Regierung gegen die Demonstranten. Eine formelle Einigung dürfte auf dem EU-Außenministertreffen am 21. September erzielt werden. In früheren Medienberichten war von bis zu 19 anvisierten Personen gesprochen worden.

Proteste seit der Wahl

Seit mehr als vier Wochen kommt es in Belarus zu Protesten gegen Lukaschenko. Hintergrund ist die Präsidentenwahl, bei der er sich mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ. Die Opposition hält dagegen Tichanowskaja für die wahre Siegerin. Die Abstimmung wird international als grob gefälscht kritisiert. (APA, Reuters, red, 7.9.2020)