Bild nicht mehr verfügbar.

Die Briten sind endgültig auf dem Weg raus aus der EU (Illustration mit Spielzeugfiguren).

Foto: REUTERS/Dado Ruvic/Illustration/File Photo

Wie vertragstreu ist Großbritannien? Zu Beginn einer neuen Verhandlungsrunde über das künftige Verhältnis der Insel zur EU wurde diese Frage in vielen europäischen Hauptstädten erörtert. Zuverlässigen Berichten zufolge enthält ein neues Gesetz der konservativen Regierung Klauseln, die dem erst im Jänner 2020 ratifizierten Austrittsvertrag zuwiderlaufen. In den Gesprächen mit Brüssel mahnt Premier Boris Johnson zur Eile. Sollte bis zum Gipfel Mitte Oktober keine Einigung vorliegen, werde es keinen Handelsvertrag geben. "Das sollten wir akzeptieren." Auch ohne Verabredung ("No Deal") werde sein Land "gewaltig gedeihen".

Einem später bestätigten Bericht der Financial Times zufolge will Johnson seine Kompromisslosigkeit mit dem "Binnenmarkt"-Gesetz unterstreichen, das am Mittwoch zur ersten Lesung ins Unterhaus kommt. Das im Juli vorgelegte Weißbuch nennt den Zweck des umfangreichen Gesetzeswerkes einen ordnungsgemäßen Transfer von EU-Zuständigkeiten an London; dagegen laufen die Regionalregierungen von Schottland und Wales Sturm, sie fürchten eine Beschneidung ihrer Kompetenzen.

Downing Street beschwichtigt

Offenbar sollen aber zusätzliche Klauseln zur künftigen Staatshilfe für Unternehmen und externe Zölle die Regeln des mit der EU vereinbarten Austrittsvertrages aushebeln. Das Nordirland-Protokoll sollte die offene Grenze zwischen der britischen Provinz und der Republik Irland offenhalten. Weil dadurch ein Teil des Vereinigten Königreiches quasi Teil des Binnenmarktes bleibt, sieht die Verabredung begrenzte Zoll- und Veterinärkontrollen zwischen der Hauptinsel Großbritannien und Nordirland vor.

Aus der Downing Street wurde das Vorhaben am Montag heruntergespielt: Von einem Wortbruch könne keine Rede sein, teilte ein Sprecher mit. Vielmehr stelle das neue Gesetz "begrenzte und vernünftige Schritte" dar, um angeblich bestehende Unklarheit zu beseitigen. Beim Thema Nordirland sei das Abkommen zwischen der EU und Großbritannien "widersprüchlich", meinte der Premierminister am Montag gegenüber Zeitung "Telegraph".

Ganz so harmlos scheinen die Partner die neue Initiative Londons nicht zu beurteilen. Sie verlasse sich darauf, dass das Königreich den Austrittsvertrag umsetze, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dies sei "eine Verpflichtung nach internationalem Recht und Voraussetzung der zukünftigen Partnerschaft". Dublins Außenminister Simon Coveney nannte die Pläne "sehr unklug". Der irische Ministerpräsident Micheal Martin warnte die Regierung in London in einem Interview, ein Bruch des Brexit-Abkommens würde dazu führen, dass alle Verhandlungen "null und nichtig" seien.

"Extrem beunruhigend"

Der Europa-Experte der Regierungsfraktion Fine Gael im irischen Parlament, Neale Richmond, sprach bei der BBC von einem "extrem beunruhigenden" Vorgang. Ausdrücklich wehrte sich Richmond auch gegen die Londoner Beruhigungsparole, die künftigen Handelsbeziehungen mit dem größten Binnenmarkt der Welt würden eine "australische Lösung" darstellen. "Ich nenne es die Lösung für Somalia und die Mongolei. Es ist bizarr und rücksichtslos."

Heute, Dienstag, beginnt in London die achte Gesprächsrunde. Vorab gaben sich beide Seiten pessimistisch. Großbritanniens Chefunterhändler David Frost hat einen Vertragsentwurf vorgelegt, der sich am CETA-Abkommen mit Kanada anlehnt. Die je nach Zählung zweit- oder drittgrößte Volkswirtschaft Europas sei wegen der engen bisherigen Verflechtung mit dem Binnenmarkt nicht mit früheren Vertragspartnern vergleichbar, argumentiert hingegen das Brüsseler Team unter Leitung des Franzosen Michel Barnier.

Beide Seiten haben Schwierigkeiten hervorgehoben: die Gleichbehandlung von Unternehmen bei der Einhaltung europäischer Standards und die Fischerei. Eine wie auch immer geartete Kontrolle etwaiger Staatshilfen für notleidende Branchen durch Brüssel komme wegen der neugewonnenen Souveränität des Landes nicht infrage, betont London. Hingegen befürchtet die EU unfairen Wettbewerb. Bei den Fischfangquoten wäre es Brüssel recht, alles würde so bleiben. Großbritannien will jährlich verhandeln.

Gelassener Barnier

Während sich Brüssel eine Gesamtvereinbarung wünscht, wollen die Briten jeweils eigene Abkommen für Themengebiete wie beispielsweise Fischerei, polizeiliche Zusammenarbeit oder den Status von Nordirland abschließen.

Trotz der Aufregung um das neue Gesetz gab sich EU-Chefunterhändler Barnier gelassen. Bei den am Dienstag vorgesehenen Gesprächen handle es sich schließlich nicht "um die letzte Runde". Hingegen sprach ein britischer Regierungsinsider im Gespräch mit dem STANDARD von einer "sehr wichtigen Woche". Ähnlich sieht es Frost: "Wir müssen Fortschritte in dieser Woche machen, wenn wir noch rechtzeitig eine Einigung finden wollen". (Sebastian Borger aus London, 7.9.2020)