Vanessa Kirby (The Crown) in "Pieces of a Woman".

Foto: Filmfestspiele Venedig

Über eines ist man sich dieses Jahr in Venedig schon jetzt einig: Als Lebenszeichen der angeschlagenen Filmbranche ist die Bedeutung des Festivals kaum hoch genug einzuschätzen. Kein Interview kommt gegenwärtig ohne einleitenden Austausch darüber aus, mit welcher Erleichterung man diese Tage durchlebt – und wie gut organisiert alles läuft.

"Es wäre viel narzisstischer gewesen, die Mostra abzusagen und nur die Auswahl bekanntzugeben", meinte etwa der italienische Regisseur Luca Guadagnino im Standard-Gespräch, der hier den Dokumentarfilm Salvatore: Shoemaker of Dreams präsentiert und nebenbei seine HBO-Serie We Are Who We Are promotet. "Der Biennale ist der fantastische Beweis geglückt, dass das kollektive Erlebnis Kino auch in Pandemiezeiten möglich ist."

Für die Zukunft bleibt freilich weiterhin vieles offen, Herbst und Winter werden Festivals aufgrund fehlender Open-Air-Zwischenräume vor neue Probleme stellen. Wie viele Filme bis zum kommenden Jahr realisiert werden können, wagt niemand genau einzuschätzen. Guadagnino ist immerhin zuversichtlich, dass er als Nächstes seine Hommage auf den Mafiaklassiker Scarface angehen wird.

Filmische Tour de force

Die meisten Filme am Lido wurden noch vor dem Lockdown abgedreht, auch der erste internationale Film des Ungarn Kornél Mundruczó, Pieces of a Woman – in diesem Fall aus Not: In Ungarn ließ er sich nicht finanzieren. Aufbauend auf seinem mit Katá Weber realisierten Theaterstück erzählt er davon, wie der Verlust eines Kindes ein Ehepaar allmählich zerreißt, weil die Trauer die Eltern voneinander isoliert.

Der erste Abschnitt zeigt die tragische verlaufende Hausgeburt, die das Baby nur ein paar Sekunden überlebt – eine filmische Tour de force, im Vérité-Stil mit fließender Kamera gedreht. Danach rückt der Film vor allem Marthas Widerstand, ihren Schmerz zu teilen, ins Zentrum. Auf die Angebote ihres Mannes (Shia LaBoeuf) reagiert sie ähnlich abweisend wie auf jene ihrer Mutter (Ellen Burstyn), ihre Versehrung überschminkt sie mit Härte.

Die Britin Vanessa Kirby (The Crown) ist mitreißend in diesem schwierigen Part. Die Stärke des Films liegt aber auch in der inszenatorischen Genauigkeit, mit der Mundruczó das Melodram unter der winterlichen Decke von Boston am Köcheln hält. In der Feinarbeit mit den Darstellern macht sich auch die Theatererfahrung des Regisseurs bezahlt. Nur das ein wenig demonstrative Spiel von LaBoeuf bleibt eher ein Fremdkörper.

Frauen als Pionierinnen

Kirby konnte man dann gleich am nächsten Tag in einem zweiten Wettbewerbsfilm erleben, der neben dem indischen Beitrag The Disciple als ein Preisanwärter gelten darf. Die aus Norwegen stammende Regisseurin Mona Fastvold, bisher vor allem Drehbuchautorin ihres Lebensgefährten Brady Corbet tätig, vermag in The World to Come mit einer prononciert weiblichen Perspektive auf zwei Siedlerinnen Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA zu betören.

Sie betritt damit ähnliches Terrain wie 2019 Céline Sciamma mit Porträt einer jungen Frau in Flammen. Auch The World to Come erzählt vom aufkeimenden Begehren zweier Frauen, allerdings begnügt sich der Film nicht nur mit einer Liebesgeschichte. Die scheue Abigail (Katherine Waterstone) und ihre freimütigere Nachbarin Tallie (Kirby) teilen das Los vieler Frauen dieser Ära: Sie darben in Ehen dahin. Viel mehr als ein Bett und die Entbehrungen des Landlebens teilen sie mit ihren Männern nicht.

Entsprechend wichtig sind die zugefrorenen Winterlandschaften, die dem Film seine filigrane Textur verleihen. Fastvold filmt ihre Figuren leicht entrückt, ähnlich wie Terrence Malick fügt sie Abigails persönliche Sicht der Dinge zunächst nur als Voice-over ein.

Kampf für Gleichberechtigung

Die Freundschaft verändert dann den Tonfall des Films. Die Frauen entdecken einen Weg, ihrer Subjektivität Ausdruck zu verleihen; sie leben auf, Gefühle bleiben nicht aus. Fastvolds Blick ist erstaunlich präzise, differenziert und zugleich gefühlsstark, auch in Hinsicht der Männer (Casey Affleck und Christopher Abbott) zeigt sie sich generös. Brillant ist schließlich der Score des Briten Daniel Blumberg, der Naturgeräusche freejazzartig imitiert und dem Film damit eine moderne Anmutung verleiht.

Amerika ist damit in Venedig gar nicht einmal so unterrepräsentiert – nur halt aus europäischen Regieaugen betrachtet. Außer Konkurrenz wurde außerdem Regina Kings Kammerspiel One Night in Miami gezeigt, in dem Cassius Clay, Malcolm X, Sam Cooke und der Footballer Jim Brown eine Nacht lang über Engagement auf ihren jeweiligen Feldern streiten – und mit welchen Mitteln sich der Kampf für Gleichberechtigung befördern lässt. Ein vergleichsweise konventioneller Film, der aber deutlich mit der Gegenwart korrespondiert. (Dominik Kamalzadeh, 8. 9. 2020)