Benjamin Paulin und seine Frau Alice in der Villa Lemoine auf dem "Ensemble Dune" aus Bouclé in gebrochenem Weiß.

Foto: Archives Pierre Paulin; Paulin Paulin Paulin; Marco Cappelletti/OMA

Als Georges Pompidou 1969 die Nachfolge von Charles de Gaulle als Präsident der Französischen Republik antritt, verpflichtet er den Gestalter Pierre Paulin, dem Élysée-Palast neues Leben einzuhauchen. "Verwenden Sie zeitgenössische Materialien (vor allem Kunststoff), berühren Sie die Wände nicht (das Gebäude steht unter Denkmalschutz), und nutzen Sie die Farbe Beige." Das waren Pompidous Vorgaben. "Und machen Sie bitte, bitte keinen Lärm." Dass der konservative Politiker ausgerechnet einen Linken als Gestalter betraut hatte, überraschte zunächst. "Ich möchte Modernität in diesen Palast bringen", sagte Pompidou, der das Nationalbewusstsein für modernes Design aus der Heimat stärken wollte. Paulin erneuerte drei Räume des Privatflügels: das Raucherzimmer, das nun wie ein Raumschiff aussah, den Gemäldesaal und das Esszimmer, das ein gigantischer Kronleuchter aus 8.973 Kristallen krönte. Die darüber liegenden Metallgitter ließ er in Fuchsia lackieren, um eine rosabeige Lichtreflexion zu erhalten, die vom Präsidentenpaar für die Wände, Böden und Möbel gewählt wurde. Damit kam er auch Frau Pompidou entgegen, deren einzige Anforderung war, "dass wir beim Essen gut aussehen".

Der Größte

Zwar gefielen den Pompidous die neuen Räumlichkeiten außerordentlich, der öffentlichen Einweihung 1972 blieben sie aber fern. Zu groß war die Angst, der Majestätsbeleidigung beschuldigt zu werden, weil sie napoleonische Kronleuchter, Savonnerie-Teppiche und goldenes Dekor durch Plastik ersetzt hatten. "Mein Vater war der größte Designer seiner Zeit", erinnert sich Benjamin Paulin. Und er war ein wundersamer Mann: Pierre Paulin entwarf Stühle und Sessel, aber sitzen sah man ihn nie. Er war Modernist und Traditionalist zugleich. Mit gleicher Hingabe entwarf er gewöhnliche Objekte wie Bügeleisen und Fonduetöpfe, an anderen Tagen das Atelier von Christian Dior, den Wartebereich für die Concorde oder den Denon-Flügel des Louvre. "Design war seine Art, mit anderen zu kommunizieren."

Menschlich kam der Sohn nie an seinen Vater heran. Pierre – Möbeldesigner, Fantast, sensible Seele – hatte sich immer schon lieber mit Möbeln als mit Menschen umgeben. Zusammen wanderten sie oft tagelang, ohne ein Wort miteinander zu sprechen – schon gar nicht über die Arbeit. Doch als Pierre Paulin 2009 schwerkrank wird, begleitet ihn Benjamin auf seine letzte Reise. Der Vater wünscht sich, dass seine ungesehenen Entwürfe endlich das Licht der Welt erblicken. Spricht über Werk und Wirken. Und zum ersten Mal glaubt Benjamin, ihm nahezukommen, dem größten Gestalter Frankreichs.

Als Paulin im gleichen Jahr stirbt, gründet Sohn Benjamin zusammen mit seiner Mutter Maïa und seiner Frau Alice Lemoine "Paulin, Paulin, Paulin", um erstmals Stücke aufzulegen, die es nie auf den Markt geschafft haben. "Nicht, weil mein Vater es nicht wollte, sondern weil sie zu komplex und teuer waren, um produziert zu werden." Als Paulin antrat, um Frankreichs Mobiliar aus seinem altertümlich-herrschaftlichen Korsett zu befreien, hingen die meisten Franzosen noch im Louis-Philippe-Stil fest. Pierre Paulins organische Entwürfe für Thonet, Artifort oder Ligne Roset hingegen luden in ihrer ungezwungenen, beweglichen Art nicht nur zur Kontemplation ein, sie befreiten sich auch von den Zwängen des Gewichts und Materials.

Paulin erfand den "Badeanzug" für Möbel: Mit Jersey kleidete er Möbel wie Menschen: Skelett (Stahl) und Muskeln (Polster) verbarg er unter einer weichen Haut. "Um ein guter Designer zu sein", sagte er, "muss man zuallererst den menschlichen Körper lieben." Mit seiner popfuturistischen Ästhetik erlag Paulin keiner wirren Utopie, sondern sah sich allein der Funktionalität verpflichtet. Der Sessel "Langue", geformt wie eine Zunge, ist näher an einem Kissen als einem Stuhl. Das "Ensemble Dune" erinnert an eine Mondlandschaft, deren gepolsterte Dreiecke weiche Spitzen bilden. Paulins frühe Glanzzeiten waren die "Trente Glorieuses", wie die Franzosen ihre 30 Nachkriegsjahre nennen. Doch die Achtziger machten Paulin abseits staatlicher Aufträge schwer zu schaffen.

"Déclive" aus dem Jahr 1968 erinnert an eine Schlange ebenso wie an einen gemütlichen fliegenden Teppich.
Foto: Archives Pierre Paulin; Paulin Paulin Paulin; Marco Cappelletti/OMA

Halblang

Der Typus des "Star-Designers" war geboren, Menschen wie Philippe Starck, die wussten, wie sie sich zu verkaufen hatten. Paulin hatte sich zwar immer mehr Sichtbarkeit gewünscht, das Rampenlicht aber suchte er nie. Keiner schien ihn mehr zu verstehen. Als ein Manager von Cassina über Paulins sinnliche Formen und die ihnen innewohnende Erotik sprach, platzt Paulin der Kragen. "Jetzt machen Sie mal halblang", sagte er, "Sie reden hier von einem Stuhl." Ende der 1980er zieht er sich nach Südfrankreich zurück. "In dieser Welt habe ich nichts mehr verloren." Dass seine Stücke heute wieder gefragt sind, ist der Entwicklung des Markts zu verdanken: Design wurde längst zum Sammel- und Spekulationsobjekt. Möbel von alten Designern werden nach wie vor vom Markt wiederentdeckt, und Benjamin Paulin begann mit Galerien zusammenzuarbeiten, die die Möbel seines Vaters im Dialog mit zeitgenössischer Kunst zeigen.

Tisch "Rosace", ein Entwurf von 1971, kann auch zum Leuchten gebracht werden.
Foto: Archives Pierre Paulin; Paulin Paulin Paulin; Marco Cappelletti/OMA

Sehnsucht

Die Kunstwelt sehnt sich nach Designobjekten mit Seele, und lang nach seinem Tod haben Paulins Entwürfe jene Strahlkraft entfaltet, die ihm zeitlebens verwehrt blieb. Selbst das Centre Pompidou zeigte neben anderen Galerien eine Retrospektive. Denn die Möbel wirken auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung noch immer modern, weil sie auf Anhieb keiner Epoche zuzuschreiben sind – merkwürdig vertraut und doch zukunftsweisend. "Es ist doch witzig", sagte Benjamin, "dass mein Vater all diese futuristischen Entwürfe in die Welt gesetzt hat, die schon damals für 'Star Trek' und 'James Bond'-Filme verwendet wurden und heute bei 'Iron Man' und den 'Avengers' zu sehen sind. Das heißt doch, dass es noch keine neue Zukunft gibt, keine neue Vision von Zukunft." Stattdessen verharren wir in dieser Zeit angesichts einer düsteren Zukunftsaussicht im gleichen Optimismus von damals.

Paulins Entwürfe sind Möbel für Hedonisten, Möbel zum Leben. Nur so wird man ihnen gerecht. Beistand kommt von ungeahnter Seite: Die Firma Louis Vuitton hilft bei der Produktion nie realisierter Prototypen. 2014 setzte Nicolas Ghesquière, Kreativdirektor der Damenmode, die Gäste seiner Cruise-Collection in Monaco auf Paulins "Osaka"-Sofas. Tom Ford und Christian Lacroix sind Sammler. Kanye West möblierte seinen Showroom in Paris mit Stücken des Designers, Architekt Daniel Libeskind verliebte sich auf der Art Basel Miami in ein Sofa Paulins und trennte sich "von meinen Mies ... und Corbusiers".

Tisch "Cathedral" von 1981 und "Lena Chair" von 1985.
Foto: Archives Pierre Paulin; Paulin Paulin Paulin; Marco Cappelletti/OMA

Entdecker

Paulins neuere Anhänger begegnen inzwischen einem Designer, dessen Werk nuancierter und vielfältiger ist, als es die gemeine Wahrnehmung vermuten lässt. Pierre Paulin war Franzose, aber als französischen Designer sah er sich nicht. Der "französische Stil" war für ihn eine Kopie des italienischen; er aber sah seine Vorbilder in der japanischen wie jemenitischen Architektur, im amerikanischen und skandinavischen Design.

Eine Art Marshmallow zum Sitzen: "C Club Chair".
Foto: Archives Pierre Paulin; Paulin Paulin Paulin; Marco Cappelletti/OMA

"Mein Vater sah sich nie als Erfinder, immer als Entdecker", sagte Paulin. "Er meinte: Es gibt nichts Neues, alles ist schon da – du kannst nur versuchen, es vor den anderen zu sehen." Die wenigen Originale seiner Werke, die es heute noch gibt, stehen bei Sammlern hoch im Kurs. Auf Pompidou-Möbel, deren Wert in den letzten Jahren um ein Vielfaches stieg, müssen Sammler lange warten. Einfachere Teile wiederum, wie Paulins zurückhaltendes Frühwerk oder ausgewählte Möbel aus dem Élysée-Palast, wurden von Herstellern wie Ligne Roset und Nemo wiederaufgelegt.

Bordeaux

Die aufregendsten Teile aber brachte Sohn Benjamin auf den Markt. Es handelte sich um Entwürfe, die nicht altern, weil sie in erster Linie eins sind: ausgesprochen gemütlich. Wie zum Beweis verwirklichten Paulin und Lemoine vor wenigen Jahren ihr bisher aufsehenerregendstes Projekt: Sie erneuerten eine modernistische Villa in einem Vorort von Bordeaux, die Lemoines 2001 verstorbenem Vater gehörte; eine frei tragende Stahlkonstruktion mit Wänden aus Gussbeton, die 1998 von Rem Koolhaas als eines seiner wenigen Wohnhäuser errichtet wurde. Weil Jean-François Lemoine querschnittgelähmt war, wurde das ganze Haus um den Rollstuhl herum konzipiert: In der Mitte befand sich eine neun Quadratmeter große, offene Stahlplattform, die dem wohlhabenden Verleger als Büro diente und sich hydraulisch zwischen den drei Stockwerken bewegen ließ, von der ebenerdigen Küche über das verglaste Mittelgeschoß mit Rundumblick auf die Stadt bis in die oberste Etage mit den Schlafzimmern.

Mithilfe von Koolhaas’ Büro OMA – und mit Zustimmung von Lemoines Mutter Hélène – verbrachte das Ehepaar mehrere Jahre damit, die Villa akribisch neu zu gestalten und mit einem Wohnsystem zum Sitzen, Schlafen und Aufbewahren auszustatten, das Pierre Paulin in den frühen 1970er-Jahren für den amerikanischen Möbelhersteller Herman Miller konzipiert hatte. Der Designer glaubte, dass sein System traditionelle Möbel vollständig ersetzen könnte, doch es wurde nie realisiert. Auch für Koolhaas löste es schließlich "eine Frage, die wir damals nicht beantwortet haben: Wie man ein Haus möbliert, das als reine Architektur gebaut wurde." (Florian Siebeck, RONDO, 8.2.2022)