So harmlos, wie er aussieht, ist er nicht. Der Cardigan galt einmal als Troublemaker. Als in den 1940er-Jahren US-amerikanische Studentinnen ihre Hüfthalter ablegten und in Hosen und Cardigan schlüpften, war das Geschrei der Männer groß. Un-vor-teil-haft, so der Tenor der männlichen Studienkollegen.

Bis dahin galt die Strickjacke nämlich als durch und durch männliches Kleidungsstück, entwickelt 1854 als wärmende Maßnahme im Krimkrieg. James Thomas Brudnell, der Earl of Cardigan, ließ für seine frierende Truppe Strickjacken aus englischer Wolle fertigen. Es blieb nicht nur das lebensrettende Kleidungsstück, sondern auch der Name.

Aufgeknöpft: Das italienische Modehaus Marni hat den Cardigan in diesem Herbst fix im Programm.
Marni

Royales Pendant zur Jogginghose

Die Vereinnahmung des Cardigans durch die Männer konnte sich im 20. Jahrhundert allerdings nicht lange halten. Zu sehr lagen dessen Vorteile auf der Hand: In Krisenzeiten vermittelt das Kleidungsstück mit der Knopfleiste biedere Beständigkeit. Das weiß kaum wer besser als die Queen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert gehört das Stück zu Queen Elizabeth’ Ausstattung, es ist so was wie das königliche Pendant zur Jogginghose – in ihr hat sich bislang jedes Problem aussitzen lassen.

Als es Ende März nämlich ernst wurde mit dem Lockdown in England, wurde auf dem Instagram-Account "The Royal Family" ein Gruß der Queen veröffentlicht. Das Foto zeigte sie während ihrer wöchentlichen Audienz mit Premierminister Boris Johnson. In der Rechten hielt sie einen Telefonhörer, dazu trug sie einen fliederfarbenen Cardigan, die Lippen in Rosé. Das Bild aus dem Homeoffice auf Schloss Windsor sollte signalisieren: Wir greifen jetzt zwar zum Hörer, aber wir haben die Sache im Griff.

Vielleicht ist jenes beständige Image auch einer der Gründe, warum Taylor Swift einen ihrer Songs auf dem neuen Album mit "Cardigan" betitelte. Im Merchandise-Shop gibt es für Fans praktischerweise auch gleich einen zu kaufen, 49 Dollar kostet das cremefarbene Modell mit den applizierten Sternen, das es zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Taylor Swift stattete bereits Freunde mit dem Modell aus, so ein Cardigan leistet eben treue Marketing-Dienste.

Taylor Swift besingt den Cardigan.
TaylorSwiftVEVO

Strick-Challenge

Ein anderer Popstar setzte mit seiner Strickjacke eine DIY-Bewegung in Gang. Harry Styles trug ein regenbogenfarbenes, rund 1200 Pfund teures Patchwork-Modell von JW Anderson in einer Probe zur The Today Show von NBC, daraufhin passierte etwas, womit das britische Modeunternehmen wohl niemals gerechnet hätte: Unzählige Fans strickten das aufwendige Modell nach. Der Designer Jonathan Anderson reagierte auf die Challenge und stellte eine Strickanleitung online. Mittlerweile hat der Hashtag #HarryStylesCardigan auf Tiktok rund 21,1 Millionen Views.

JW Anderson

Auch die amerikanische Schauspielerin Katie Holmes erlebte ein besonderes Social-Media-Moment in einem Cardigan. Sie spazierte im vergangenen Herbst durch den New Yorker Stadtteil Soho, Holmes trug eine Strickjacke des angesagten US-Labels Khaite, der aufgeknöpfte Cardigan war über die gebräunte Schulter gerutscht und legte einen dazugehörenden BH aus Kaschmir frei. Zufällig erwischte sie ein Paparazzo ausgerechnet in jenem Moment an einer Straßenkreuzung. Die Schauspielerin und ihre neue Stylistin Julia von Boehm wurden mit Lob überhäuft.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der Cardigan in den Social-Media-Netzwerken Karriere machen würde? Lange galt er als gediegenes, verstaubtes, nahezu vergessenes Kleidungsstück. Wir erinnern uns an Bilder von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, die im Sommer 1990 in den kaukasischen Wäldern Gespräche miteinander führten. Die beiden Politiker im Cardigan trieben mit ihrer Strickjackendiplomatie die deutsche Einheit voran, heute wirken jene Fotos wie ein ferner Gruß aus der Vergangenheit.

Vielleicht ist es genau jene Unkaputtbarkeit, die den modischen Alleskönner in Zeiten von Corona zum Rettungsanker macht: Wenn Influencerinnen auf Instagram ihre Herbstgarderobe vorstellen, dann kommen sie nicht ohne einen übergroßen Cardigan (siehe auch von Marni, oben im Bild) aus. Wenn alles drunter und drüber geht, dann hält man sich eben an Vertrautem fest.

So verwundert es auch nicht, dass derzeit das zugeknöpfte Twinset im Windschatten des Cardigans einen Lauf hinlegt. Die Strick-Kombination mag an das Hollywood der Fünfzigerjahre, an Grace Kelly, Jean Simmons, Audrey Hepburn erinnern, wird aber eher so wie im Film Clueless von 1995 getragen – mit ein wenig mehr Entspanntheit. (Anne Feldkamp, RONDO, 28.9.2020)

Cardigan aus Organic Cotton von COS (99 Euro).
Foto: Cos
Kuschelig aus Mohair von Filippa K (260 Euro).
Foto: Filippa K
Der Cardigan als Kleid von Monki (40 Euro).
Foto: Monki
Oranger Cardigan aus Alpakamischung von Esprit (69,99 Euro).
Foto: esprit