"Ich wurde im Alter von zwei Jahren gehörlos. Schuld war ein Unfall. Meine Mutter war mit mir spazieren, zwei Autos kollidierten, eines davon traf den Kinderwagen, in dem ich saß. An dem Tag bin ich ertaubt. Noch erstaunlicher wird meine Geschichte durch den Umstand, dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter gehörlos waren. Ein Freund von mir meinte einmal, das wäre Stoff für einen Film.

Ich kann mich nicht an Geräusche, Stimmen oder Musik erinnern. Aber an das Gefühl, in einer Kirche zu sein. Auch das war nach dem Unfall ein anderes. Ich denke dadurch, dass ich keine Orgelmusik mehr hören konnte. Ich erinnere mich, dass ein Kirchenbesuch davor warm und schön war. Es hat sich nach dem Unglück kalt angefühlt. Auch eine Spieluhr zum Einschlafen fällt mir ein. Ein schönes Bild, das ich in mir trage.

"Man kann Unbekanntes nicht vermissen"

Ich stelle mir keine Geräusche vor. In der Schule wurde versucht, uns Schülern mittels Trommeln und anderen Instrumenten Musik näherzubringen. Aber wenn man nichts hört, interessiert einen das nicht. Wenn eine musikalische Performance durch Gebärdensprache begleitet wird und ich den Bass spüre, dann ist das mein einziger Zugang zu Musik. Afrikanische Musik eignet sich durch ihre Bässe eindeutig besser als die Philharmoniker, zu deren Musik ich überhaupt keinen Bezug habe.

Freunde von mir, die erst im Alter von 17, 18 Jahren ihr Gehör verloren haben, empfinden bei diesem Thema eine große Trauer. Sie vermissen die Musik. Bei mir verhält sich das anders. Man kann etwas Unbekanntes nicht vermissen. Es ist ja auch unmöglich, eine Farbe zu beschreiben, die man nie gesehen hat. Ich kann nicht einmal die Frage beantworten, ob ich gerne hören würde. Für mich ist es durchaus vorstellbar, dass mir die Welt zu laut wäre.

"Meine Gehörlosigkeit war übrigens nicht die Hauptmotivation, warum ich in die Politik gegangen bin und Nationalratsabgeordnete wurde."
Foto: Nathan Murrell

Als Kind besuchte ich eine Schwerhörigenschule, in der wir Hörgeräte tragen mussten. Die befähigten uns natürlich nicht, Sprache zu verstehen. Die Geräte hatten den Zweck, uns zu ermöglichen, Geräusche zuzuordnen. Das kann sehr stressig und belastend sein. Denken Sie nur, wie viele verschiedene Geräusche in einem Kaffeehaus existieren. Es hat also durchaus Vorteile, gehörlos zu sein. Wenn sich meine hörenden Mitmenschen über die Müllabfuhr um sieben Uhr morgens beschweren, schlummere ich fein weiter.

Mythos Lippenlesen

Mit dem Lippenlesen ist das so eine Sache. Es heißt, dass 30 Prozent des Gesprochenen von den Lippen abgelesen werden können, wenn der Kontext bekannt ist. Es ist ein Mythos, dass man gut von den Lippen ablesen kann. Hinzu kommt, dass die Menschen hierzulande über ein undeutliches Mundbild verfügen, wie ich das nenne. Ganz zu schweigen von all den Dialekten. Auch das Gestikulieren und die Mimik können eine große Hilfe sein. In anderen, zum Beispiel arabischen Ländern funktioniert das besser. In Österreich wird man als Gehörloser ein Stück weit von oben herab angesehen. Die Blicke der Zeitgenossen sagen Dinge wie ‚Könnten Sie sich vielleicht ein bisschen mehr bemühen?‘. Ob Gehörlose auch fluchen? Selbstverständlich! Drücke ich mit meiner Faust von unten gegen mein Kinn, heißt das ‚Du Idiot!‘.

Gehörlose Menschen sollten als Sprachminderheit gesehen werden, denn genau das sind sie. Da fällt mir ein, dass die alten Indianerstämme mit ihren verschiedenen Sprachen bei Treffen mit einem anderen Stamm in einer Gebärdensprache kommunizierten, obwohl es hörende Menschen waren.

Man kann alles übersetzen

Sollte mich jemand ansprechen, zum Beispiel in einem Lokal, ergibt sich fast immer eine ganz besondere Situation.

Einem gehörlosen Menschen sieht man seine Behinderung ja nicht an. In der Regel reagiert das Gegenüber zuerst einmal schockiert und erschrocken. Sein Gesicht sagt: 'Und was mach' ich jetzt?' Es gibt Menschen, die kommen schneller mit der Situation klar, andere brauchen wesentlich länger. Ich kann mich an den Besuch einer Bäckerei irgendwo auf dem Land erinnern, wo die Verkäuferin schlichtweg erstarrte und ich ein Weilchen warten musste, bis sie wieder auftaute.

Meine Gehörlosigkeit war übrigens nicht die Hauptmotivation, warum ich in die Politik gegangen bin und Nationalratsabgeordnete wurde. Mir ging und geht es um Barrieren aller Art, auch um die Barrieren, welche die Bildung betreffen. Ich habe damals auch die Übersetzungen der Sitzungen in Gebärdensprache durchgebracht.

Es hat ein Jahr gedauert, bis wirklich alle Abgeordneten Vertrauen darauf hatten, dass man tatsächlich alles übersetzen kann. Der ehemalige Sozialminister Rudolf Hundstorfer wollte zum Beispiel wissen, ob man 'Ich bin ja nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen' übersetzen kann. Natürlich kann man. Warum denn nicht?" (Michael Hausenblas, RONDO, 21.9.2020)