Vor etwas mehr als 75 Jahren beging Adolf Hitler in Berlin Suizid. Seither sind hunderte Bücher über ihn erschienen: Hitler sells, immer noch. Zwei der neueren biografischen Monografien stammen vom deutschen Historiker Thomas Weber, der an der Universität Aberdeen in Schottland lehrt. Seine beiden Bände "Hitlers erster Krieg" (2011, engl. 2010) und "Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde" (2016) sorgten auch international für einiges Aufsehen. Weber kommt nächste Woche zu einem Symposion anlässlich der Ausstellung "Der junge Hitler. Prägende Jahre eines Diktators 1889–1914" nach St. Pölten und wird dort den Eröffnungsvortrag halten.

Der deutsche Historiker Thomas Weber erforscht seit vielen Jahren Adolf Hitlers Radikalisierung.
Foto: Universität Aberdeen

STANDARD: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren biografisch mit Adolf Hitler. Wie kam es dazu?

Weber: Ich wurde eigentlich als Strukturhistoriker sozialisiert und kam eher durch Zufall auf die Hitler-Biografik. Ich arbeitete ein wenig am ersten Band von Ian Kershaws umfassender zweibändiger Hitler-Biografie mit, die ich nach wie vor für eine tolle Arbeit halte. Im Wesentlichen hat Kershaw eine kluge Synthese der Arbeiten zu Hitler bis zum Ende der 1990er-Jahre geliefert und einen Schwerpunkt auf die Zeit ab 1933 gelegt, als Hitler bereits an der Macht war. Für mich blieb da die Frage offen, wann und wie Hitler zum Nationalsozialisten wurde.

STANDARD: Wie lauteten Ihre damaligen Annahmen?

Weber: Ich ging so wie die meisten meiner Kollegen – auch aufgrund von Brigitte Hamanns Buch Hitlers Wien – davon aus, dass die Wiener Jahre von 1908 bis 1913 nicht entscheidend für die Radikalisierung Hitlers waren. Es gab damals in Wien zwar ein recht radikales deutschnationales und antisemitisches Milieu, aber offensichtlich hatte Hitler damals einige jüdische Bekannte, und auch antisemitische Äußerungen sind nicht wirklich bekannt. Die nächstliegende Vermutung meiner Kollegen, dass sich die Radikalisierung im Ersten Weltkrieg vollzogen hat, leuchtete mir aber nicht ein. Ich habe daher das Buch Hitler’s First War geschrieben, das 2010 erschienen ist.

STANDARD: Ist Hitler als Soldat zum radikalen Rechten geworden?

Weber: Eine meiner damaligen Erkenntnisse war, dass er politisch noch relativ formbar und wenig radikalisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Meine Recherchen lieferten also weniger Antworten als neue Fragen, die ich dann im Buch Becoming Hitler: The Making of a Nazi zu beantworten versuchte. Darin geht es vor allem um die frühen 1920er-Jahre, in denen meines Erachtens die politische Radikalisierung hauptsächlich stattfand. Während des Schreibens habe ich aber wiederum bemerkt, dass wir die Entwicklung von Hitlers Antisemitismus nicht verstehen.

STANDARD: Was haben Sie darüber herausgefunden?

Weber: Man ging lange davon aus, dass Hitler nach dem Ersten Weltkrieg zwar auch in seinem Antisemitismus immer radikaler wurde, aber damals noch keine Vorstellungen hatte, was er mit den Juden anstellen wollte. Doch es gibt aus dieser Zeit bereits mündliche Äußerungen, die auf eine Auslöschung der Juden hindeuten. Hitlers Anfang der 1920er-Jahre privat geäußerter Judenhass war also viel radikaler als sein öffentlich geäußerter Antisemitismus. Aber durch welche Mutationen führte das bei Hitler zu den konkreten Ideen des Holocausts? Und wann begann dieser Antisemitismus?

STANDARD: Sie argumentierten in einem Anfang dieses Jahres erschienenen Beitrag für das Journal of Holocaust Research, dass Hitler 1913 womöglich doch schon als glühender Antisemit in München angekommen ist.

Weber: Richtig. Das geht unter anderem auf Aussagen von Elisabeth Grünbauer zurück, der Tochter jener Familie, bei der Hitler nach seiner Übersiedlung nach München gewohnt hat. Genauso gut könnte Hitlers Antisemitismus aber auch graduell stärker geworden sein, wie der israelische Historiker Moshe Zimmermann in einem Kommentar zu meinem Aufsatz meinte. Hitler selbst hat anscheinend nur sehr ungern über die letzten Jahre in Wien gesprochen, und zudem gibt es hier eine offensichtliche Lüge in der Datierung, wann Hitler tatsächlich nach München übersiedelte. Laut nationalsozialistischen Angaben geschah das 1912, es dürfte aber 1913 passiert sein.

STANDARD: Sie vermuten, dass da noch in Wien etwas Traumatisches passiert sein könnte, das zu Hitlers Antisemitismus führte.

Weber: Ja. Was das gewesen ist, wissen wir aber nicht. Sind Berichte über eine enttäuschte Liebe, denen zufolge Hitler einmal mit der Tochter eines osteuropäischen jüdischen Einwanderers aus Galizien verlobt gewesen ist, glaubhaft? Prinzipiell scheint es mir wichtig, sich in dem Zusammenhang noch einmal die österreichische Zeit Hitlers bis 1913 genauer anzusehen und nach neuem Material Ausschau zu halten.

Der spätere Diktator als Volksschüler in Leonding: Adolf Hitler (ganz oben Mitte) mit seinen Schulkollegen.
Foto: Bildarchiv der ÖNB

STANDARD: Das haben kürzlich die Historiker Hannes Leidinger und Christian Rapp in ihrem Buch "Hitler – prägende Jahre" getan. Die beiden präsentieren unter anderem die Vermutung, dass Hitler schon 1908 einem Antisemitenbund beigetreten sein könnte. Was halten Sie davon?

Weber: Ich halte das für sehr interessant, bin mir aber nicht sicher, wie das einhergeht mit Hitlers positiven Bekanntschaften mit Juden in der gleichen Zeit. Ich will aber nicht ausschließen, dass es in den frühen Wiener Jahren beides gleichzeitig gegeben hat. Eigentlich noch spannender finde ich, was die beiden über die Zeit in Linz und über Hitlers dortige Bezugspersonen herausfanden, die zum Teil stark antisemitisch waren und ihn für später beeinflusst haben könnten.

Dokukanal

STANDARD: Gibt es eine Frage, die Sie selbst im Zusammenhang mit den frühen Hitler besonders umtreibt?

Weber: Eine Schlüsselfigur in den frühen 1920er-Jahren war der Österreicher Josef Stolzing-Cerny, ein Duz-Freund Hitlers. Er redigierte Hitlers Reden, steckte hinter Hitlers erster Biografie 1923 und redigierte "Mein Kampf". Er hat zusammen mit seinem Freund Hitler als öffentliche Figur erfunden. Aber in der Hitler-Forschung kennt man ihn kaum. Viele Hitler-Experten, die ich auf Stolzing-Cerny angesprochen habe, hatten aber nicht einmal von ihm gehört.

STANDARD: Warum ist es wichtig, sich als Historiker mit diesen Fragen zu befassen – einmal abgesehen davon, dass sich Bücher über Hitler gut verkaufen und solche Interviews wie dieses hier gelesen werden?

Weber: Trotz vieler hervorragender Bücher zu den Themen sitzen wir zum Teil immer noch der NS-Propaganda auf. Das liegt daran, dass vieles, was wir über die Radikalisierung Hitlers zu wissen glauben, die Nationalsozialisten im Nachhinein erfunden haben. Die erste englischsprachige Hitler-Biografie aus dem Jahr 1934 etwa wurde vielfach als Primärquelle gelesen, weil jedes Kapitel ein Interview mit einem Weggefährten Hitlers über dessen frühe Jahre enthält. Man hat vielfach nicht durchschaut, dass es sich bei dem Buch um ein nationalsozialistisches Propagandawerk handelte. Viele andere der frühen Quellen wurden von den Nationalsozialisten systematisch gesammelt und zerstört. Deshalb ist auch die Arbeit von Hannes Leidinger und Christian Rapp so wichtig.

STANDARD: Lässt sich aus diesen Studien auch etwas für heute lernen?

Weber: Man versteht meines Erachtens immer noch nicht, warum der frühe Hitler zu dem geworden ist, was er später war – und warum dieser radikalisierte Hitler Erfolg haben konnte. Das bedeutet aber auch, dass wir heute womöglich falsche Schlüsse ziehen und nach den falschen Warnsignalen suchen, wenn wir nach einem neuen Hitler oder neuen extremistischen Bewegungen Ausschau halten.

STANDARD: Sehen Sie diese Gefahr? Leben wir wirklich in einer ähnlich krisenanfälligen Zeit wie in den 1920er- und 1930er-Jahren?

Weber: Ich denke, dass diese Gefahren in Deutschland oder Österreich aktuell vergleichsweise gering sind. In einigen Ländern sind wir aber schon wieder dort angekommen wie in der Türkei, wo Recep Tayyip Erdoğan sich ganz offen und positiv auf Deutschland und Hitler bezieht, um sein Präsidialsystem zu legitimieren. Faktum ist auch, dass es heute weniger Demokratien gibt als noch vor wenigen Jahren.

STANDARD: In Deutschland stürmten kürzlich die Reichsbürger die Stufen des Reichstags. War das so ein Warnsignal, von dem Sie gesprochen haben?

Weber: Ich will das nicht kleinreden, aber wir könnten aufgrund eines falschen Verständnisses von Hitler und des Nationalsozialismus, das durch die NS-Propaganda verzerrt ist, nach den falschen Personen Ausschau halten: Wir konzentrieren uns auf die "Bilderbuch-Nazis": auf diese Reichsbürger oder jene Leute, die in Dresden bei der Pegida mitmarschierten. Womöglich geht aber eine größere Gefahr von jenen aus, die ganz normal reden und auch ihre gewinnenden Seiten haben – die ja allem Anschein nach auch Hitler privat hatte. Ich denke, wir müssen womöglich nach subtileren Warnsignalen suchen. (Klaus Taschwer, 11. 9. 2020)