Die von dem Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed regierte afrikanische Hoffnungsnation Äthiopien steht vor einer Verfassungskrise, die zur Auflösung des Vielvölkerstaats führen könnte. Gegen den Willen der Zentralregierung in Addis Abeba hält die Regierung der im Norden des Landes gelegenen Tigray-Provinz am Mittwoch Wahlen ab, die vom "Haus des Bundes" – der dem österreichischen Bundesrat vergleichbaren zweiten Kammer des äthiopischen Parlaments – im Vorfeld bereits für "null und nichtig" erklärt wurden. Dagegen bezeichnete Tigrays Provinzregierung jeden Versuch, die Wahlen zu verhindern, als "Kriegserklärung".

Wie nervös die Regierung des knapp 110 Millionen Einwohner zählenden Staates ist, macht schon das Reiseverbot deutlich, das die Regierung in Addis Abeba über Experten und Journalisten verhängte. Am Montag waren eine Gruppe von Korrespondenten und ein Mitglied der Brüsseler International Crisis Group (ICG) an ihrem Flug in die Provinzhauptstadt Mekelle gehindert worden. Ursprünglich sollten Ende August in ganz Äthiopien Wahlen stattfinden: Doch der Urnengang, in dem sich der im April 2018 zum Premierminister ernannte Abiy Ahmed erstmals vom Volk bestätigen lassen wollte, wurde wegen der Corona-Pandemie auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben.

In Mekelle herrscht tigrayischer Nationalstolz – und der verträgt sich manchmal nicht so gut mit Addis Abebas Wünschen.
Foto: EDUARDO SOTERAS / AFP

Kritik an Premier

Tigrays Volksbefreiungsfront (TPLF), die in der Provinzhauptstadt Mekelle regiert, betrachtet die Wahlverschiebung als verfassungswidrig. Auf diese Weise suche sich Abiy Ahmed nur unbefristet an der Macht zu halten, argwöhnt die TPLF. Ihr Verhältnis zum Premierminister ist bereits seit dessen Amtsübernahme schlecht: Schließlich strebt Abiy Ahmed statt eines starken Föderalstaats einen stärkeren Zentralstaat an.

Äthiopien wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten von der EPRDF geführt: einem Zusammenschluss ethnisch definierter ehemaliger Befreiungsbewegungen, dem auch Abiy Ahmed angehörte. Obwohl die Tigrayer lediglich sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmachen, spielten sie in der EPRDF eine entscheidende Rolle: 17 Jahre lang stand der Regierung Meles Zenawi aus Tigray vor, auch Sicherheitsdienste und die Generalität waren von Tigrayern dominiert.

Abiy Ahmed stammt dagegen von einem amharischen Vater und einer oromischen Mutter ab: Mit 27 Prozent beziehungsweise 34 Prozent sind Amharer und Oromer die beiden größten Volksgruppen Äthiopiens. Vor allem die Oromer sehen sich schon seit Jahrhunderten von der Macht ferngehalten: Bislang gaben entweder Amharer oder Tigrayer den Ton in Äthiopien an. Als Abiy Ahmed zum Premier gekürt wurde, war die oromische Jugend dermaßen beglückt, dass sie ihre seit Jahren anhaltenden Proteste einstellte: Endlich einer von uns, dachten die Aufständischen.

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Premier Abiy Ahmed unter Zugzwang.
Foto: Michel Euler/Pool via REUTERS/File Photo

Enttäuschung

Und sie täuschten sich. Der neue Regierungschef machte sich keineswegs daran, den Anspruch der nationalistischen Oromer auf die Macht zu bedienen. Vielmehr will er die Äthiopier in einem starken Nationalstaat zusammenbringen. Zu diesem Zweck benannte er seinen Teil der EPRDF bereits in "Wohlstandspartei" um, in der die ethnische Zugehörigkeit der Mitglieder keine Rolle mehr spielen soll. Allerdings fielen dem Parteigründer keine entscheidenden Teile der zersplitternden EPRDF zu: Weit mehr schlossen sich den national-ethnischen Parteien an, die inzwischen in den meisten Provinzen zum entscheidende Machtfaktoren geworden sind. Und sie lehnen Abiy Ahmed und dessen gestärktem Nationalstaat immer vehementer ab.

Seit vor drei Monaten der bekannte Oromo-Sänger Hachalu Hundessa einem Attentat zum Opfer fiel, wird Abiy Ahmeds Experiment einmal mehr auf die Probe gestellt. Wieder gehen tausende oromische Jugendlicher auf die Straße: Diesmal nicht für, sondern gegen ihren einstigen Hoffnungsträger. Der Friedensnobelpreisträger regiert, wie man es eher von seinen Vorgängern erwartet hätte: Er lässt mehr als 9.000 Demonstranten hinter Gitter bringen. Fast 200 Menschen kommen bei den Unruhen ums Leben.

Und schon sieht sich der Premierminister vor der nächsten Belastungsprobe: Je stärker die nationalen Kräfte aus den Wahlen in Tigray hervorgehen, desto geringer wird die Chance, dass Abiy Ahmed die Äthiopier jemals zusammenführen kann. (Johannes Dieterich, 8.9.2020)