Degenerativ abgewelkt, mit gelegentlichen hedonistischen Aufhellungen: Crescendo bis nahe der Nulllinie im MQ.

Foto: Kerim El Mokdad

Ein Tanzstudio? Ein Fitnessclub? Sechs Menschen kommen rein, in Sachen Frisur und Figur unterschiedlich unterwegs. Aufwärmen, Dehnen. Boxübungen, Kopfballspiele. Eine (mit Kamera überwachte) Umkleidekabine gibt es auf der Bühne der Halle G im MQ auch, sie ist bald ähnlich stark frequentiert wie die vom Doppelgroßbuchstaben-Textilhändler am Samstag (Bühne: Johannes Maas, Annett Hardegen, Boris Nikitin). Man sieht faszinierend vielfältiges Gewand: Festwochen-Style, inspired by Dries Van Noten und Vivienne Westwood (Kostüme: Lee Méir).

Die Musik: Auf vier präparierten Oben-ohne-Pianinos spielt das eidgenössische Kukuruz Quartett erst kurz dies und dann noch viel kürzer das, Splitter/Flitter von Beethoven, Schubert, Tschaikowsky und Co bis zu James Bond, Michael Jackson und den Beatles. In Summe ein sentimentales Hintergrundrauschen, blechern, altmodisch verstimmt: ä kliis bitzeli christophmarthalerhaft. Ein Tänzer, plötzlich bewusst- und bewegungslos, wird erst bestiegen, dann begehrt, dann penetriert.

Geisterhafte Motorik

Einschub/Vorgeschichte: 24 Bilder pro Sekunde ist Boris Nikitins vierte Arbeit seiner Serie Theater der Verwundbarkeit. 2015 erkrankte der Vater des Schweizer Künstlers an ALS, einer degenerativen Nerven- und Muskelkrankheit. An dessen letzte zehn Lebensminuten, die "geisterhafte Motorik" des Sterbenden, an einen "Körper, der nicht mehr kulturell gesteuert ist", erinnere er sich diesbezüglich, so der 41-Jährige. Ob die körperliche Verwundbarkeit kein Versagen, sondern vielleicht die "größte Fähigkeit" sei? Als "musikalisches Gemälde" zwischen "dokumentarischem Realismus, Appropriation-Art und Surrealismus" wird das Werk beschrieben. "Wann werden unsere Körper zum bewegten und bewegenden Bild, zu diesem fragilen Zustand, den wir Identität nennen?"

Nach dem halbstündigen Einleitungsblock wird’s happiger. Die vier Klavierspielenden türmen im Minimal-Music-Modus ein gewaltiges Crescendo auf. Auch ein Werk von Julius Eastman (1940–1990), dessen Gay Guerrilla man am Ende hören wird. Die sich vor Schmerz verbiegende Person in der Mitte: Ist das der Komponist, zuletzt gepeinigt von den Dämonen der Drogensucht? Um ihn herum Zuschauende und Wegschauende. Zusätzlich zum anwachsenden Klavierklangberg schwillt auch ein Gewittergrollen aus dem Subwoofer an und übernimmt bald ganz die Vorherrschaft.

Kurze hedonistische Aufhellung

Auf eine kurze, hedonistisch gestimmte Aufhellung (Dosenbier, Party, The Big Lebowski) folgen Menschen, die auf Videowalls starren, Menschen, die in eine Kamera leiden, folgt Erstarrung. Dann nehmen die vier Klaviere noch einmal Fahrt auf, die Bewegungen der Tanzenden aber nicht: Da sind nur noch Zuckungen nahe der Nulllinie. Aus, Applaus. Fragendes Fazit: Supidupidiverses, verstiegenes Festwochen-Blasenzeugs oder doch irgendwie gut? Beides. (Stefan Ender, 9.9.2020)