Kurz kann kein größeres Projekt vorweisen, mit dem er sich eine historische Bedeutung in diesem Land gesichert hätte, kritisiert der ehemalige JVP-Funktionär und Buchautor Muamer Bećirović den Bundeskanzler. Woran das liegt, erläutert er in diesem Gastkommentar.

Zeigt keinerlei Bereitschaft, die eigene Macht für ein politisches Ziel zu riskieren: Bundeskanzler Sebastian Kurz.
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In Wirtschafts-, Sozial- und Bildungsfragen stehen die Österreicher empirisch erhoben mehrheitlich ganz klar links der Mitte. Die urbane, intellektuelle Führung der SPÖ, insbesondere Bruno Kreisky, konnte Geist und Macht exzellent miteinander kombinieren, womit sie bis heute das politische Denken der Österreicher geprägt hat. Sie hat Österreich mehr geprägt als ihre konservativen Konterparts. Ein selbstbewusstes Bürgertum hat sich nie wirklich entwickeln können.

Zuckerbrot und Peitsche

Das, was es an urbanen, bürgerlichen Intellektuellen in den Städten gab, hat die SPÖ aufgesaugt. Sie einte diese unter einem Programm und holte sie aktiv in den Staatsdienst. Die Sozialdemokratie gewann die Macht von der Stadt ausgehend in die Länder hinaus. Bei der ÖVP ist es genau umgekehrt. Die ÖVP übt daher Macht aus, wie es eine urbane Partei nie machen würde: wie im Stall. Wer Zuckerbrot nicht will, muss mit der Peitsche rechnen. Zwischen diesen Denkansätzen gibt es keinen Spielraum für unbequeme, verspielte und sicherlich auch exzentrische Köpfe. Es ist bis heute der Grund, wieso die klügsten Köpfe innerhalb der Volkspartei nach wenigen Jahren im Staatsdienst abspringen, sobald ein finanziell besseres Angebot kommt. Die Ideologie der ÖVP ist simpel: Jede Gruppe, die über Macht verfügt, sitzt am Verhandlungstisch und tariert untereinander ihre Interessen aus. In diesem geistigen Rahmen wurde Kurz politisch sozialisiert: Tue nichts, was deine Interessen gefährdet.

Kurz regiert seit mehreren Jahren – und bis auf die Zusammenlegung der Sozialversicherungen und dem Kinderbonus kann der Bundeskanzler kein größeres Projekt vorweisen, mit dem er sich eine historische Bedeutung in diesem Land gesichert hätte. Woran liegt das? Immerhin ist er der mächtigste Mann der letzten zwei Jahrzehnte. Erkennt sein Beraterstab diese Schwäche? "Seine Leute erkennen das durchaus. Das Problem ist vielmehr, dass seine klügsten Köpfe wie Stefan Steiner und Bernhard Bonelli selbst ständig mit der Tagespolitik beschäftigt sind", sagt mir jemand, der den Kanzler gut kennen muss. Ein anderer sagt mir: "Der Einzige, der begriffen hat, dass die Großparteien geistig und gestalterisch am Ende sind, und aktiv externe junge Leute reinholt, ist Michael Ludwig."

Geistige Leere

Der Tatsache, dass es keine Exzellenz mehr in den Parteien gibt, auf die sich Kurz verlassen könnte, fügt sich eine weitere Sache hinzu: Der Kanzler legt unheimlich großen Wert darauf, was Journalisten über ihn denken und schreiben. Er verliere den Blick für das Wesentliche – zu regieren – für das Unwesentliche, wie er öffentlich dargestellt wird. Wobei es viele Problemfelder gäbe, wo Reformprogramme nötig wären, wo sich Kurz als Staatsmann auftun könnte: Zum einen wäre da die Selbstermächtigung des Menschen, indem man ein Reformprogramm auferlegt, um die Chancengerechtigkeit in den finanziell schwächsten Orten zu erhöhen. Zum anderen wäre da eine Pensionsreform, um die Generationengerechtigkeit wiederherzustellen. Und da wären noch Reformen für die Lockermachung von mehr Risikokapital oder auch die Erhöhung der Grundlagenforschung, die in Kooperation mit Unternehmen auf wirtschaftlich fruchtbarem Boden fällt. Kurz behebt die historische Schwäche der Konservativen, der geistigen Leere nicht, da er selbst eine Schöpfung derselben ist.

Sobald ein Bundeskanzler die Türschwelle des Kanzleramts betritt, beginnt die Sanduhr zu laufen, die die verbleibende Zeit in diesem Amt abzählt. Niemand hält sich in einer Demokratie ewig an der Macht. Was bleibt, sind jene Taten, die ihren Einfluss auf die Gesellschaft hinterlassen. Je mehr Zeit verstreicht, desto größer werden die Narben, desto geringer die Gestaltung.

Schielen auf Umfragewerte

Was sich aus meinen Konversationen einhellig herauskristallisiert, ist die mangelnde Bereitschaft von Kurz, die eigene Macht für ein politisches Ziel zu riskieren. Wenn man seinen Karriereverlauf penibel studiert, dann stimmt das. Der Kampf mit Reinhold Mitterlehner wurde ausgefochten, als dieser am Boden lag und Kurz selbst im Umfragehoch war. Sein Kampf für die restriktive Flüchtlingspolitik kam just zu dem Zeitpunkt, als sich die Mehrheit der Österreicher diese wünschte. Bei den EU-Budgetverhandlungen wandte er dasselbe Schema an: Er kam als Sieger aus Brüssel zurück, ohne irgendetwas mit seinem Veto riskiert zu haben. Um das Große und Ganze in Europa müssen sich Deutschland und Frankreich sorgen, muss der Kanzler denken.

Kurz führte und führt daher keinen einzigen politischen Kampf aus der Position heraus, welche seiner Macht gefährlich werden könnte. Mein Freund, der ehemalige Vizekanzler Erhard Busek, hat mir einmal sinngemäß gesagt: "Regieren bedeutet Veränderung mit Konflikten." Ausnahmslos alle Staatsmänner sind aus folgendem Holz geschnitzt: mit dem Mut zum Risiko und zur Einsamkeit für die Erreichung eines Ziels, das größer ist als das Amt des Bundeskanzlers selbst. Ein Staatsmann ist in solchen Momenten einsam, weil die Partei, die Institutionen und auch das Wahlvolk oftmals gegen jedwede einschneidende Reformen sind. Aus diesem Holz ist Kurz nicht gemacht. Damit ist seine größte Schwäche beschrieben: Er kann und wird nicht regieren, da jedes größere politische Projekt mit dem Risiko verbunden ist, dass er seine Macht verliert. Er wird von sich aus nichts tun, was dazu führen könnte. Diese Einsamkeit, diesen Tornado an Gegnerschaft kann und will er auch nicht, selbst wenn es dem Gemeinwohl dient.

Empirische Realität

Staatsmänner müssen mit der empirischen Realität arbeiten, die sie umgibt. Aber ihr politisches Ziel liegt in der Zukunft. Die Empirie kommt erst dann, wenn alles bereits besiegelt ist, sonst gäbe es sie als empirischen Beweis nicht. Der Staatsmann muss über die empirische Realität hinausgehen, er muss für ein moralisch-politisches Ziel mit einem "musikalischen Gefühl" für Geschichte arbeiten, die sich erst dann, wenn sein politisches Ziel erreicht ist, als neue empirische Realität verfestigt.

Damit wird es keine Kurz-Ära geben. Kurz ist ein politisch harmloser Kanzler der Macht. Auch mit ihm bleibt die ÖVP in Gegenwart und Zukunft weit davon entfernt, Österreich politisch mehr zu prägen, als es die Sozialdemokratie tat. Die Person Kurz ist eine exzellente Fußnote dafür, dass der Strom der Geschichte mächtiger ist als ein raffiniertes Individuum. Es hätte auch andersrum sein können. (Muamer Bećirović, 9.9.2020)