Party, Party, Parteeeey! An den Börsen ist von Krise keine Spur – zumindest auf den ersten Blick.

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Aktienbörsen mögen vielen undurchschaubar anmuten. Besonders jetzt, wenn mitten in den wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise die Wall Street einen atemberaubenden Gipfelsturm aufs Börsenparkett legt. Wie kann es sein, dass Investoren ständig neue Kursrekorde feiern, während viele Bürger ihre Jobs verlieren oder um diese bangen müssen und viele Selbstständige und Firmen vor dem Aus stehen? Oder schon einen Schritt weiter sind?

Ins Auge springt die enorm starke Entwicklung von Technologieriesen wie Google, Amazon, Microsoft oder Apple, das unlängst als erstes Unternehmen einen Börsenwert von mehr als zwei Billionen Dollar erzielte. Abzulesen ist dies an dem Gipfelsturm der Technologiebörse Nasdaq, deren Gesamtindex vergangene Woche erstmals die Marke von 12.000 Punkten übersprang, bevor zu Wochenschluss eine Korrektur einsetzte. "Ja, es ist eine Krise", sagt Atanas Pekanov, Finanzmarktexperte des Wifo, "aber die Technologiefirmen profitieren davon, wie wir darauf reagieren."

Rekorde nur ganz oben

Klar, der Digitalisierungsschub während der Corona-Krise durch Homeoffice, Videokonferenzen oder vermehrte Onlinekäufe ist nicht zu übersehen. Aber reicht das aus, um die Schwäche anderer, leidender Wirtschaftszweige zu kompensieren? Wenn man als Maßstab den S&P-500-Index heranzieht, in dem die 500 größten Unternehmen der Wall Street aus allen Branchen zusammengefasst sind, lautet die Antwort Ja. Auch bei diesem Kursbarometer wurden zuletzt Rekordpegelstände gemeldet, wenngleich es längst nicht so stürmisch zugeht wie an der Nasdaq. Allerdings weist Pekanov darauf hin, dass auch in diesem Index die Technologieriesen sehr hoch gewichtet seien – ihn also maßgeblich nach oben gehievt haben.

Ein anderes Bild ergibt nämlich ein Blick auf die zweite und dritte US-Börsenliga: Abseits der schillernden Weltkonzerne sind im Russell-2000-Index jene Unternehmen zusammengefasst, die stärker auf den Heimatmarkt ausgerichtet sind, also gewissermaßen das Fundament der US-Wirtschaft darstellen. Und dieses zeigte schon vor Corona erste Risse. Denn Rekorde erzielt der Index seit Sommer 2018 nicht mehr, vielmehr geht es tendenziell abwärts. Knallende Sektkorken an der Nasdaq, während der Unterbau dahinsiecht – das ist für Wifo-Ökonom Pekanov weniger ein Widerspruch als eine Besonderheit der Corona-Rezession 2020.

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Digital-Unternehmen wie Zoom profitierten prächtig von der Corona-Krise.
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K-förmige Erholung

Volkswirte wählen zur Beschreibung gern Großbuchstaben, die den Konjunkturverlauf wiedergeben sollen. Also ein V für einen Abschwung mit schneller Erholung, bei einem U dauert es beispielsweise schon etwas länger. Aber wie passt eine K-förmige Rezession ins Bild, wie Pekanov sie diesmal sieht? Das K steht für eine auseinanderlaufende Entwicklung in unterschiedlichen Bereichen, also gewissermaßen eine ökonomische Zweiklassengesellschaft. Diese sieht der Wifo-Volkswirt für Unternehmen, wobei etwa der boomende Technologiebereich etliche andere, leidende Wirtschaftszweige zur sogenannten Old Economy degradiert, um einen Begriff der Dotcom-Blase der Jahrtausendwende zu strapazieren. Aber auch für Haushalte gelte eine ähnliche Entwicklung, was durchaus Auswirkungen auf die Börse hat.

"Die Rezession wird viele Bezieher von Niedrigeinkommen stark treffen", sagt Pekanov. "Sie werden zuerst die Jobs verlieren." Am härtesten erwischt es also jene Haushalte, die ohnedies kaum Kontakt zu Finanzmärkten haben. Anders in der US-Mittelschicht, bei der der Ökonom kaum Einkommensverluste sieht – bei eingeschränkten Möglichkeiten zum Geldausgeben während des Lockdowns. Diese freien Mittel hätten etliche dazu genutzt, um in Aktien zu investieren – wobei vor allem viele junge Leute gern zu Technologiewerten gegriffen hätten.

Politik lässt Börse kalt

Mittelfristig sind jedoch Pekanov zufolge die Aussichten für die Mittelschicht ziemlich ungewiss – je nachdem, inwieweit sie die gutbezahlten Jobs behalten könne. Für die Reichen sieht er ohnedies eine anhaltend gute Entwicklung. Und wie wirkt sich die US-Präsidentschaftswahl im November auf die Wall Street aus? "Der Wahlkampf hat relativ wenig Einfluss auf die Börsen", meint Pekanov.

Ganz im Gegenteil zu Regierungen und vor allem zu Notenbanken: Ohne deren zügiges Einschreiten mit Konjunkturprogrammen und billionenschweren Wertpapierkäufen wäre vieles anders gekommen, besonders an den Finanzmärkten. Darauf pocht nicht nur Wifo-Ökonom Pekanov, sondern auch Börsenexpertin Monika Rosen. Die Chefanalystin des Private Banking der Bank Austria weist zudem auf den kürzlich erfolgten Strategieschwenk der US-Notenbank Fed hin, die nun ein gewisses Überschießen der Inflation ohne gegenzusteuern tolerieren will. Nicht, dass die Fed tatsächlich bald in diese Verlegenheit zu kommen droht – Rosen sieht darin aber ein Signal an die Märkte, dass die Notenbank ihre Geldpolitik auf längere Zeit sehr expansiv gestalten wird.

Gold-Rally zeigt Sorgen

Für die Analystin ist die schnelle Erholung der Aktienmärkte auffallend: "Es ist ungewöhnlich. Das war der kürzeste Bärenmarkt aller Zeiten." Von einem Bärenmarkt spricht man, wenn eine Börse seit einem Hoch um mindestens 20 Prozent sinkt – was nach dem Crash-artigen Einbruch zu Beginn der Krise erstaunlich schnell aufgeholt wurde. Warum, erklärt Rosen mit zunächst sehr düsteren Konjunkturprognosen, die auf eine längere Krise hingedeutet hätten, sich nun aber zusehends aufhellen würden. Die Börsen setzen Rosen zufolge nun darauf, dass die Krise – nicht zuletzt dank medizinischer Fortschritte in der Bekämpfung der Corona-Pandemie – bald bereinigt werde. "Ob das so kommt, wird sich zeigen", fügt sie hinzu.

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Wirecard ist – oder war – auch ein Digitalunternehmen. Von Corona konnte der deutsche Zahlungsdienstleister nicht profitieren. Wegen eines Bilanzskandals legte Wirecard heuer die erste Pleite eines Dax-Unternehmens hin.
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Generell neigen Aktienmärkte dazu, die Konjunkturentwicklung um etwa sechs bis neun Monate vorwegzunehmen. Soll heißen: Die Versprechen, welche die Wall Street heuer im Sommer gemacht hat, muss die Wirtschaft erst im nächsten Jahr einlösen. Und es gebe auch Investoren, die "dem Frieden nicht so ganz trauen", erinnert Rosen: "Dass auch eine gewisse Skepsis im Markt ist, zeigt die Rally im Goldpreis." Das Edelmetall gilt als eine Art Krisenwährung für wirtschaftliche Verwerfungen und erfreut sich reger Nachfrage. Im Sommer übersprang der Preis für eine Feinunze erstmals die Marke von 2000 Dollar, bevor eine Korrektur einsetzte.

Dass nicht alles Gold ist, was glänzt, zeigt sich übrigens am deutschen Aktienmarkt. Auf den ersten Blick hält sich der Leitindex Dax sehr passabel, fehlen ihm doch auch nur wenige Prozentpunkte auf sein Rekordhoch. Aber das ist ein Trugschluss, der auf eine Besonderheit des Dax zurückzuführen ist: Als sogenannter Performanceindex werden bei ihm im Gegensatz zu allen anderen genannten Börsenbarometern nicht nur Kursbewegungen, sondern auch Dividendenzahlungen berücksichtigt – was auf lange Sicht enorm viel ausmacht. Beim Dax-Kursindex wird dieser Effekt weggelassen, und derart demaskiert offenbart der deutsche Leitindex ein weniger hübsches Antlitz.

Dax als Mogelpackung

Derzeit liegt der Dax dann nämlich merklich unter dem Höchststand der Dotcom-Blase der Jahrtausendwende. Soll heißen: In den vergangenen 20 Jahren erzielten die 30 größten deutschen Börsenkonzerne leichte Kursverluste. Bezeichnend dabei: Im Dax sind kaum Technologiefirmen vertreten, wenn man von Luftschlössern wie dem Skandalkonzern Wirecard absieht. Ein Mangel, der auch dem österreichischen ATX anhaftet, der Rekorden ebenfalls schon seit mehr als einem Jahrzehnt hinterherhechelt. Vielleicht hat sich auch an der Börse entwickelt, was Wifo-Ökonom Pekanov bei Unternehmen und Haushalten diagnostiziert: eine digitale Zweiklassengesellschaft. (Alexander Hahn, 9.9.2020)