Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, schreibt in ihrem Gastbeitrag über das Flüchtlingslager Moria als "Inbegriff des Totalversagens der europäischen Flüchtlingspolitik".

181 ausrangierte Container. Das war die Antwort Österreichs auf das Elend der Geflüchteten in den Hotspots auf den griechischen Inseln. Und auf den dringenden Appell zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen am Höhepunkt der Corona-Krise, die Menschen zu evakuieren. Um eine Katastrophe zu verhindern. Jetzt ist die Katastrophe eingetreten. Im Lager Moria auf der Insel Lesbos ist in der Nacht auf Mittwoch ein Feuer ausgebrochen. In Containern. Moria liegt in Schutt und Asche. Unter den Trümmern begraben die Seele Europas.

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In der Nacht auf Mittwoch hat ein Feuer das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos zerstört. Tausende Menschen sind auf einen Schlag obdachlos geworden.
Foto: Reuters / Alkis Konstantinidis

Moria, der größte der fünf Hotspots auf den griechischen Inseln, ist Inbegriff des Totalversagens der europäischen Flüchtlingspolitik, das jetzt im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Inferno geführt hat. Tausende, unter ihnen viele Kinder, sind auf einen Schlag obdachlos geworden. Mit nichts außer dem, was sie am Leib haben, sind sie vor den Flammen geflohen, berichtet der Partner der Diakonie Katastrophenhilfe vor Ort, "Stand by me Lesbos".

Moria ist einer von fünf EU-Hotspots in Griechenland, die 2015/16 eingerichtet wurden, um in der EU ankommende Asylsuchende zu registrieren, Zulassungsverfahren durchzuführen und die Zugelassenen rasch aufzuteilen auf die EU-Mitgliedsstaaten, wo die Asylverfahren durchgeführt werden sollten. Das griechische Asylsystem war damals schon längst zusammengebrochen. Daher hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits im Jahr 2011 beschieden, dass andere EU-Staaten im Rahmen der Dublin Verordnung keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland zurückschicken dürfen. So nimmt es nicht wunder, dass die griechischen Behörden überfordert waren.

Humanitäre Katastrophe

Auch die Unterstützungsversuche des European Asylum Support Office sind kläglich gescheitert. Und der politische Wille der Europäischen Union und der Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten zu einer solidarischen Lösung und fairen Verteilung der Asylsuchenden versiegte rasch. Das Konzept Hotspots ist gescheitert, ohne je in die Umsetzung gegangen zu sein.

Für die Menschen in den Hotspots heißt das: Aus einigen Tagen sind Wochen, Monate, Jahre geworden. Aktuell hängen 27.000 Menschen – über die Hälfte sind Frauen, Kinder und Jugendliche – fest, auf unbestimmte Zeit müssen sie auf den griechischen Inseln ausharren unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ohne ausreichend Trinkwasser, Nahrung, Sanitäranlagen, Gesundheitsversorgung. Sogar Kinder nehmen sich aus Verzweiflung das Leben. Eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa. Erfahrene Katastrophenhelfer berichten, Zustände wie in Moria an keinem anderen Ort der Welt erlebt zu haben.

Die europäischen Regierungen sehen zu. Die politisch Verantwortlichen hierzulande verkünden, man habe schon genug getan, verschränken die Arme und lehnen sich zurück. Tatsächlich ist Österreich im europäischen Vergleich inzwischen weit abgeschlagen, was die Zahl an Asylverfahren pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner betrifft, nämlich auf Platz 14.

Weltweit betrachtet, nehmen die Länder des globalen Südens, angeführt von der Türkei, Pakistan, Uganda und dem Sudan, 84 Prozent der Menschen auf der Flucht auf. Im Libanon, einem Land in etwa so groß wie Oberösterreich mit sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, leben 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge.

Problemlos bewältigbar

Magis potens, magis obligatur. Mit dem Können steigt auch die Verpflichtung. Europa ist ein reicher Kontinent, und Österreich zählt zu den fünf reichsten Ländern der EU. Wir haben die Mittel und Möglichkeiten. Die rechtlichen Grundlagen sind vorhanden: Die Dublin-Verordnung sieht den gegenseitigen Beistand der EU-Länder vor, jeder Staat kann Asylverfahren an sich ziehen.

Österreich hat dazu die Kapazitäten. Das Personal des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen wurde in den letzten Jahren massiv aufgestockt, die Zahl an Asylantragen ist aktuell auf einem Allzeittief. Platz in Grundversorgungsquartieren gibt es ebenfalls genug, nur vier von 22 Unterkünften des Bundes werden aktuell für die Flüchtlingsbetreuung genutzt. In den Gemeinden gibt es die Kompetenz und die Hilfsbereitschaft – Bürgermeister und Bürgermeisterinnen erklären sich seit Monaten immer wieder bereit, Menschen aus den Hotspots aufzunehmen. Wenn mehrere europäische Regierungen ihre Kapazitäten prüfen und sich zu einer Koalition der Willigen zusammenschließen, werden sie feststellen, dass 27.000 Menschen aufzunehmen problemlos bewältigbar ist.

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." So beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wenn wir nicht wollen, dass Menschenwürde und Menschenrechte, dass Vernunft, Gewissen und der europäische Geist der Solidarität im Schutt und in der Asche von Moria begraben werden, müssen wir die Menschen, allen voran die Kinder evakuieren und faire Asylverfahren durchführen. Es geht um nicht weniger als um die Seele Europas. Um unsere Seele. (Maria Katharina Moser, 10.9.2020)