FÜR
Der internationale Vergleich macht Andreas Schleicher sicher. "Die meisten erfolgreichen Bildungssysteme setzen auf Ganztagsschulen", sagt der Bildungsdirektor der OECD. Gerade seinen Volksschülern gestehe Österreich viel weniger Lernzeit zu, als es im Schnitt der Industriestaaten der Fall ist: "Eine Ganztagsschule kann mehr Raum bieten, um Talente zu fördern und Defizite auszugleichen."
Halbtagsschule braucht Eltern
Wie viele andere Befürworter sieht Schleicher darin ein Rezept gegen ein unrühmliches Charakteristikum des heimischen Halbtagssystems: Schulischer Erfolg hängt stark davon ab, ob die Eltern an den freien Nachmittagen nachhelfen können oder wollen. Wer in einen Akademikerhaushalt geboren ist, hat später viel größere Chancen, es selbst an die Uni zu schaffen. Die Ganztagsschule hole Kinder aus dem ungünstigen Umfeld und dämpfe so den Startnachteil, argumentiert Schleicher. Die Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Uni Wien sagt: "Wenn sie gut gemacht ist, schafft die Ganztagsschule sicher mehr Chancengerechtigkeit, weil sie dort kompensiert, wo die Herkunftsfamilie nicht genug helfen oder fördern kann."
Dass Erfahrungen aus Deutschland den erhofften Fortschritt erst einmal nicht belegten (siehe "Wider"), erklärt Schleicher damit, dass das Modell sehr schnell eingeführt wurde. Die Ganztagsschule dürfe nicht auf bloße Betreuung hinauslaufen: "Mehr Zeit verspricht noch keinen Erfolg. Es braucht schon ein fundiertes Konzept."
Ganztagsschule bringt allen was
In einer anspruchsvollen Form aber, die Unterricht, Freizeit, Erholung sowie Phasen der individuellen Beschäftigung abwechselnd organisiert, komme das Modell nicht nur sozial schwachen Schichten zugute, urteilen beide Experten – etwa weil mehr Zeit für Angebote abseits der Kernfächer bleibt. Dabei entlaste die Ganztagsschule, wie Spiel sagt, auch jene Eltern, die derzeit meinen, das alles selbst viel besser zu machen: mit dem Kind ins Theater gehen, es ins Ballett oder zum Sport bringen.
Denn bildungsnahe, sozioökonomisch bessergestellte Eltern, die oft stressige Berufe haben, müssten daheim nicht mehr Hausaufgaben kontrollieren und lernen, "sondern könnten entspannt als Familie den Abend verbringen", sagt Spiel. Ihre Kinder würden nichts verlieren, weil sie alles, was die Eltern jetzt privat organisieren (müssen), dann in der Schule oder von dieser organisiert – etwa vernetzt mit Vereinen – machen könnten: "Natürlich muss es Zeitfenster geben, wo Kinder individuellen Interessen nachgehen können."
Freiraum für Mütter
Die Vorteile lassen sich auch aus feministischer Sicht argumentieren: Ist die Ganztagsschule die Norm, fällt mit der Kinderbetreuung ein entscheidendes Hindernis für Frauen weg, sich beruflich zu entfalten. Stehen gut ausgebildete Kräfte voll im Erwerbsleben, ist das ein Gewinn für die gesamte Volkswirtschaft.
Ob acht Stunden Schulzeit die Kinder nicht überfordern? Psychische Probleme resultierten viel eher aus einem ungünstige familiären Umfeld, sagt Schleicher: "Und am schlechtesten ist, wenn die Kinder dauernd vor dem Fernseher sitzen."
WIDER
Die Ganztagsschule als Patentrezept, um sozial benachteiligte Schüler zu stützen? Es gibt Experten, die diesem Kernargument der Befürworter widersprechen. Stefan Hopmann, Bildungswissenschafter an der Uni Wien, sieht "keinen messbaren Nachweis, dass die Ganztagsschule die Chancengleichheit fördert", und verweist auf das "milliardenteure" Ausbauprogramm in Deutschland. So kam die offizielle Begleitstudie 2010 zu einem ernüchternden Schluss: "Für Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen."
Länger in der Schule heißt nicht besser
"Die Verweildauer allein sagt eben noch nichts über die Qualität aus", urteilt Hopmann. Ja, es gebe bildungspolitisch erfolgreiche Länder mit Ganztagsschulen – aber auch gescheiterte. Wenn, wie in Österreich, in den Schulen nach dem Prinzip eine Klasse, ein Lehrer "19. Jahrhundert gespielt wird", könnte das Modell unter Umständen schädlich sein: Sind Kinder mit sprachlichen oder anderen Defiziten den ganzen Tag unter Kollegen, die es ebenfalls nicht besser können, sei dies kontraproduktiv. Statt knappes Geld breit in einen Ausbau der Ganztagsschulen zu streuen, empfiehlt der Forscher der Politik, lieber gezielt in zusätzliche Lehrkräfte für benachteiligte Schüler zu investieren: "Ob ganztägig oder nicht, ist zweitrangig."
Mit Freunden außerhalb abhängen
Aber ist nicht alles besser, als daheim Zeit beim Fernsehen oder Videospielen totzuschlagen? Das lässt Hopmann nicht einmal für sozial benachteiligte Schüler gelten: "Wir wissen nicht wirklich, was die in ihrer Freizeit tun. Für die Mehrheit bietet ein Mittagessen zu Hause mehr Bildung als eine schulische Alternative." Die bloße Anwesenheit in der Schule bereichere das Leben noch nicht, sagt er und fragt: "Hätten Sie das, was Sie in der Schule erlebt haben, gerne täglich bis 17 Uhr gehabt? Die Ganztagsschule nimmt Zeit, mit Freunden abzuhängen und Abenteuer zu erleben."
Da haken auch andere kritische Stimmen ein. Ein Vollzeitschultag raube Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeit gemäß den eigenen Vorlieben zu entwickeln, lautet ein gängiges Argument. Für Vereine, Musikschulen und Co bleibe kaum noch Zeit, auch das Familienleben leide. Schließlich gibt es ja auch Eltern, die gerne beruflich zurückstecken, um sich ihrem Nachwuchs zu widmen – statt sich alle Aufgaben vom Staat aus der Hand nehmen zu lassen.
Wahlfreiheit statt Zwang
Ganztagsschule als Regelmodell würde Müttern und Vätern diese Wahlfreiheit nehmen. Auf die pocht auch Pflichtschullehrergewerkschaftschef Paul Kimberger, der das Thema "pragmatisch" angehen möchte: Wo es Bedarf gebe – und da sieht er ein Stadt-Land-Gefälle –, brauche es natürlich auch Ganztagsschulangebote.
Andere Kritiker warnen überdies davor, dass die Ganztagsschule Kinder psychisch überfordere. Was etwa, wenn das Klassenklima nicht passt? Dann seien Schüler Stress und Mobbing noch viel länger ausgesetzt, als es ohnehin schon der Fall ist. (Gerald John, Lisa Nimmervoll, 10.9.2020)