Der anklagende Blick einer aussterbenden Spezies: Seit 1994 schrumpften die Bestände des Östlichen Flachlandgorillas im Kongo um 87 Prozent.
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Das sechste große Massenaussterben der Erdgeschichte beschleunigt sich, parallel zum rasanten Wachstum der Erdbevölkerung. Dass es hier einen kausalen Zusammenhang gibt, scheint evident – aber so einfach gestrickt sind die Wechselwirkungen zwischen Menschheit und Biosphäre dann doch nicht. Das Endresultat freilich bleibt dasselbe: Das von vielen Fachleuten bereits Anthropozän titulierte Zeitalter des Menschen ist geprägt von Umweltzerstörung und Artenvernichtung. Das geht einmal mehr aus der alle zwei Jahre veröffentlichten Studie "The Living Planet Report" hervor, einer von WWF und der Zoological Society of London herausgegebenen Bestandsaufnahme der schwindenden weltweiten Wildtierbestände.

Unterschiede der mittlerweile 13. Inventur zu vergangenen Berichten gibt es allenfalls im Ausmaß der immer offensichtlicheren Katastrophe: Gemessen an 20.811 repräsentativen Wirbeltierpopulationen von 4.392 Arten sind die weltweiten Tierbestände seit 1970 durchschnittlich um 68 Prozent geschrumpft. In anderen Worten: Der Mensch hat gerade einmal 50 Jahre gebraucht, um die Zahl der analysierten Wirbeltiere auf unserem Planeten um über zwei Drittel zu reduzieren. Bei den Bewohnern der Süßwasserlebensräume, der am stärksten betroffenen Tiergruppe, beläuft sich der Verlust sogar auf 84 Prozent, was der übermäßigen Wasserverschmutzung, Wasserentnahme und Verbauung geschuldet ist.

Grafik: WWF

Rasanter Rückgang

Wie schnell diese Zahlen inzwischen nach oben klettern, zeigt ein Blick zurück. Als die Langzeitstudie 1998 erstmals erschien, lag der ermittelte Gesamtrückgang bei Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen für den Zeitraum 1970 bis 1995 "nur" bei 30 Prozent. 2018 ermittelte der "Living Planet Report" bereits einen Wert von 60 Prozent. Und dabei handelt es sich nur um jene Populationen, die man unter die Lupe genommen hat. Wie es um den weitaus größeren Teil der Tierwelt steht, der keinem flächendeckenden Monitoring unterliegt, lässt sich kaum abschätzen.

Kein Wunder also, dass Wissenschafter vom sechsten Massenaussterbeereignis der vergangenen 500 Millionen Jahre sprechen – zu Recht, wenn man bedenkt, dass nicht nur die Anzahl der Tiere dramatisch zurückgeht, sondern vor allem die Biodiversität: Gegenwärtig schätzen Forscher die Geschwindigkeit des Artensterbens auf das 100- bis 1000-fache der durchschnittlichen historisch typischen Aussterberate. Damit ist das Tempo des Holozän-Massenaussterbens zehn- bis 100-mal höher als bei allen früheren Massensterben in der Geschichte der Erde.

Umweltzerstörung, Wilderei und Klimawandel

Die genauen Ursachen für das biologische Verkümmern unseres Planeten sind vielfältig und nicht allein auf das Wachstum der Weltbevölkerung zurückzuführen. Hauptsächlich machen die Studienautoren die fortlaufende Zerstörung von Biotopen, Entwaldung, Wilderei, den illegalen Wildtierhandel und Überfischung verantwortlich. Hinzu kommen Umweltverschmutzung, Einschleppung von tierischen und pflanzlichen Invasoren und – nicht zuletzt – in wachsendem Ausmaß auch die Folgen des globalen Klimawandels.

In den letzten 25 Jahren brachen die weltweiten Bestände der Lederschildkröte um 84 Prozent ein.
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Aus der Vielzahl an bekannten gefährdeten Arten greift der WWF einige ikonische Arten heraus, darunter auch den Östlichen Flachlandgorilla, dessen Bestände im Kongo seit 1994 vor allem aufgrund illegaler Jagd um 87 Prozent zurückgegangen sind. Durch Wilderei und Beifang sind auch Bestände der Lederschildkröten seit 1995 um 84 Prozent gesunken. Der Afrikanische Graupapagei ist im Südwesten Ghanas beinahe ausgerottet worden (minus 99 Prozent seit 1992), weil er häufig gehandelt wird und seine Lebensräume zerstört werden. Um 86 Prozent eingebrochen sind die Bestände des Afrikanischen Elefanten im Selous-Mikoumi-Gebiet in Tansania, vor allem aufgrund der Elfenbein-Wilderei.

Österreich ebenso betroffen

Das Artensterben spielt sich freilich nicht nur in fernen Regenwäldern und Meeren ab, sondern geschieht durchaus auch vor der eigenen Haustür: Jede dritte heimische Tier- und Pflanzenart steht auf der "Roten Liste" bedrohter Arten. Auch die heimischen Wirbeltierbestände sind im Langzeit-Vergleich massiv eingebrochen. Neben der Übernutzung durch intensive Landwirtschaft ist der rasante Bodenverbrauch ein wesentlicher Treiber des Artensterbens.

Von Großprojekten im Straßenbau über Skigebietsverbauungen bis zu immer neuen Supermärkten am Ortsrand verliert Österreich täglich im Schnitt 13 Hektar Boden. Ganz besonders schlecht ist es um die Flüsse bestellt, die durch den extremen Ausbau der Wasserkraft immer mehr verbaut werden. Nur noch 15 Prozent der Flüsse seien demnach ökologisch intakt.

Das Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs hat dem Buckelwal eine Verschaufspause verschafft.
Foto: imago/alimdi

Vereinzelte Zuwächse

Das ernüchternde Zahlenwerk hat punktuell allerdings auch Positives zu vermelden. So macht etwa Hoffnung, dass das internationale Walfang-Moratorium den Beständen der Buckelwale im westlichen Südatlantik zu einer gewissen Erholung verholfen hat: Waren 1958 nur mehr 450 Wale übrig, tummeln sich heute wieder geschätzte 25.000 Tiere im Ozean. Ganz ähnliche Ursachen hat die Verdoppelung der Singschwäne in Großbritannien. Sie standen nach intensiver Bejagung am Rande der Ausrottung und haben sich nach Verbesserung der Schutzmaßnahmen wieder erholt.

"Das zeigt: Natur- und Artenschutzmaßnahmen funktionieren, aber es braucht viel mehr davon. Der Mensch verursacht nicht nur das Problem, sondern hält auch den Schlüssel für die Lösung in den Händen", erklärt der WWF-Experte Georg Scattolin. Auch die Ausweitung von Schutzgebieten bringt etwas: In solchen Arealen verschwinden nur halb so viele Tiere wie in nicht geschützten Gebieten. Eine Wende sei möglich, meinen die Experten. Doch dafür brauche es einen globalen Naturschutzpakt nach dem Vorbild des Pariser Klimavertrags. (Thomas Bergmayr/red, 10.9.2020)