Zum ersten Mal trafen die sechs Spitzenkandidaten am Mittwochabend im Radiokulturhaus aufeinander. Es wird nicht die letzte Elefantenrunde im Wahlkampf gewesen sein.

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Die Ausgangslage vor den Wiener Gemeinderatswahlen hat sich seit dem letzten Urnengang im Jahr 2015 dramatisch verändert. Vor fünf Jahren war im Wahlkampf noch das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPÖ und FPÖ ausgerufen worden. Die Roten unter dem ehemaligen Bürgermeister Michael Häupl konnten die Wahl dann doch klar für sich entscheiden und gingen in eine Verlängerung mit Rot-Grün.

Die FPÖ machte den Oppositionsführer. Es folgte 2017 die Regierungsbeteiligung der Blauen im Bund und schließlich die Ibiza-Affäre, die das Zerbröseln des rechten Lagers mit sich brachte.

Von einem rot-blauen Duell kann also im heurigen Jahr keine Rede sein. Umfragen der letzten Wochen und Monate (siehe Grafik) zeigen deutlich, dass an die SPÖ keine Partei herankommt. Zuletzt wurden der Bürgermeisterpartei gar 41 Prozent prognostiziert, was sogar einen Zugewinn im Vergleich zur letzten Wahl bedeuten würde, bei der die SPÖ auf 39 Prozent kam.

Zweiter Wahlgewinner, wenn auch weit abgeschlagen, dürfte die ÖVP werden. In Umfragen kam sie im Juni auf bis zu 25 Prozent, zuletzt reihte sie sich bei 20 Prozent ein. Auch das ist noch mehr als eine Verdoppelung seit 2015, als nur neun Prozent der Wienerinnen und Wiener für die ÖVP stimmten.

Aus diesen Umfragewerten zu schließen, dass eine Koalition aus Rot und Türkis, also eine Zusammenarbeit der beiden Wahlsieger, ein realistisches Szenario ist, ist allerdings nicht zutreffend. Die inhaltlichen Differenzen werden von Tag zu Tag größer. Auch wenn es bei manchen Konzepten – beispielsweise in Sachen Wiederankurbelung der Wirtschaft nach der Corona-Krise – wohl einen gemeinsamen Nenner gäbe, gehen die Positionen bei der Integration oder Sozialthemen doch weit auseinander.

Streitpunkt Flüchtlinge

Bestes Beispiel dafür sind die Aussagen bei der ersten großen Elefantenrunde aller Spitzenkandidaten am Mittwochabend in der Sendung "Klartext" des Radiosenders Ö1. Großen Raum nahm die Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen ein. "Das Thema Integration zeigt, dass es eine Mitte-rechts-Politik mit Anstand braucht", sagte der Spitzenkandidat der ÖVP, Finanzminister Gernot Blümel.

Er sprach sich dagegen aus, Flüchtlingskinder aus griechischen Lagern aufzunehmen, wie es SPÖ, Grüne und Neos in einem gemeinsamen Antrag beschlossen hatten. Schon jetzt gebe es nach der Flüchtlingskrise 2015 eine "verlorene Generation" mit "direktem Weg in die Mindestsicherung". So zu tun, als ob man weitere Flüchtlinge aufnehmen könne, sei "extrem blauäugig", so Blümel.

Blaue Stimmen

Dass er um ehemalige FPÖ-Wähler buhle, wie auch Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) in der Debatte einwarf, verneinte Blümel gar nicht: Die Wähler seien mehrmals von der FPÖ enttäuscht worden. "Für sie gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich eine türkise Handschrift." Die ÖVP sei die einzige Mitte-rechts-Partei, "die regierungsfähig ist".

Ludwig blieb zum Schluss der Debatte kaum etwas anderes übrig, als eine künftige Zusammenarbeit kritisch zu sehen. Er sagte: "Ich bedaure sehr, dass die ÖVP, die christlich-soziale Wurzeln hat und lange Zeit einen liberalen Flügel hatte, jetzt im Wettstreit mit Strache und der FPÖ steht." Blümel darauf: "Schade, dass das (eine Koalition, Anm.) der Herr Ludwig jetzt ausschließt." Natürlich wolle die ÖVP in der nächsten Stadtregierung sein und gestalten.

ÖVP auf Stimmenmaximierung aus

Der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik bezweifelt letztere Aussage allerdings. Seiner Beobachtung nach liegt bei der ÖVP die Priorität darauf, den Stimmenanteil zu erhöhen, nicht aber darauf, sich Koalitionsoptionen offenzuhalten.

Früher sei das oft umgekehrt der Fall gewesen. Ennser-Jedenastik verweist etwa auf die 90er-Jahre, wo sich die ÖVP im Bund damit begnügte, Juniorpartner in der großen Koalition zu sein. Er hält es für einen "allgemeinen Denkfehler, dass Parteien unbedingt Stimmen maximieren wollen". Das könne nur unter der Bedingung geschehen, dass es nicht auf Kosten einer Regierungsbeteiligung gehe.

Rot-Grün realistischer?

Das hieße, dass die ÖVP eine rot-türkise Koalition in Wien nach dem 11. Oktober ohnehin gar nicht anstrebt. Zwei weitere Argumente sprechen dafür: Blümel müsste seinen Job als Finanzminister nicht an den Nagel hängen, um ein Regierungsamt in Wien anzutreten. Außerdem ist Rot-Grün in Wien nach zehn Jahren gemeinsamer Regierungsarbeit trotz Hickhacks im Wahlkampf gut aufeinander abgestimmt, sodass für Ludwig die einfachere und wohl bequemere Variante ohnehin eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit wäre. Das ist auch der ÖVP bewusst, die ihre Chancen einer Regierungsbeteiligung zunehmend schwinden sieht.

Harte Ansagen bei Migrationsthemen kann sie daher machen, da sie Ludwig ohnehin nicht als realistischen Partner sieht. Mit Forderungen wie Deutsch im Gemeindebau spricht sie FPÖ-Wähler an. Im Sinne der Stimmenmaximierung "eine kluge Strategie", so Ennser Jedenastik. Selbst wenn die Forderung rechtlich gar nicht umsetzbar ist. (Text: Rosa Winkler-Hermaden, Grafik: Michael Matzenberger, 10.9.2020)