Für Alexander Apeikin ist es in Minsk "viel zu gefährlich" geworden. Wie viele Landsleute hat er sich nach Kiew abgesetzt. "Hier fühlen wir uns sicher, hier organisieren wir uns."

Foto: Evgenij Dmitrishin

Ich war, das muss ich zugeben, lange ein unpolitischer Mensch, wie viele andere Belarussen auch. Bis vor einem Monat. Nach den Präsidentschaftswahlen ist es so für mich nicht mehr weitergegangen. Ich musste meine Komfortzone verlassen. Es war ein sehr spontaner Schritt, ich hätte ihn mir selbst nicht zugetraut. Am Tag nach der Wahl war mir klar, ich muss diesen Schritt tun, ich muss mich endlich bewegen. Also habe ich den Protestbrief der belarussischen Sportlerinnen und Sportler verfasst.

Mehr als 500 haben den Brief schon unterschrieben, 1.000 Unterschriften sind das nächste Ziel. Unter den Unterstützern sind echte Superstars, Olympiasieger, Weltmeister und Europameister. Wir fordern ein Ende der staatlichen Gewalt und Brutalität. Wir fordern die Freilassung aller politischen Gefangenen, wir wollen, dass Lukaschenko abtritt und neue, faire Wahlen abgehalten werden.

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Wir gehen ein Risiko ein

Das Ergebnis der letzten Wahl wurde klar gefälscht. Wenn zwanzig Prozent der Stimmen auf Lukaschenko entfielen, ist das hochgegriffen, ich denke, es waren eher 15 Prozent. Und dann heißt es offiziell, dass er fast 80 Prozent geholt haben soll. Wahrscheinlich hat Lukaschenko immer betrogen, aber so dreist und so offensichtlich noch nie.

Ich habe höchste Bewunderung für alle, die unterschrieben haben. Wir alle wissen, welches Risiko wir eingehen, und dennoch tun wir es. Etliche haben schon ihren Job und auch ihren Platz im Verein oder im Nationalteam verloren, einigen wurde das Gehalt gekürzt, allen drohen Konsequenzen, wenn sie ihre Unterschrift nicht zurückziehen. Viele wurden bedroht, nicht wenige wurden verhaftet, geschlagen und gefoltert. Doch trotz alledem haben nicht mehr als fünf einen Rückzieher gemacht.

Am Anfang war es schwierig, Unterschriften zu bekommen, niemand wollte der Erste sein. Dann hat Andrej Krawtschenko unterschrieben, ein sehr bekannter Leichtathlet, 2008 war er Olympiazweiter im Zehnkampf. "Ich weiß, dass ich Probleme kriegen werde, aber ich kann nicht mehr stillhalten", hat er gesagt. Und er hat wirklich Probleme bekommen. Er war Offizier beim KGB, beim belarussischen Komitee für Staatssicherheit. Diese Stellung hat er verloren, außerdem muss er Ausbildungskosten zurückzahlen.

Dsewjatouskis Posting.

Auch der Präsident des Leichtathletikverbands, Wadsim Dsewjatouski, hat aufbegehrt. "Lukaschenko ist nicht mein Präsident", hat er auf Facebook gepostet. Und jetzt weiß seit Tagen niemand, wo sich Dsewjatouski aufhält. Im staatlichen TV wurde vermeldet, er habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und liege im Krankenhaus. Telefonisch war er nicht erreichbar. Angeblich hat er sich ins Ausland abgesetzt.

In Kiew fühlen wir uns sicher

Auch für mich ist es in meiner Heimatstadt Minsk viel zu gefährlich geworden, ich musste flüchten. Jetzt halte ich mich in Kiew auf, viele meiner Landsleute sind hierhergezogen, vor allem Junge, Kreative, viele aus der IT-Branche. Hier fühlen wir uns sicher. Hier organisieren wir uns. Meine Mutter, die in Pension ist, und mein Bruder leben nach wie vor in Minsk, er ist Historiker am Stalin-Linie-Museum, ein anerkannter Experte.

Ich bin Handballer gewesen, war 2012 selbst an der Gründung eines Vereins beteiligt. Vityaz Minsk war zunächst ein reines Amateurteam, wir sind dann Schritt für Schritt aufgestiegen, bis in die erste Spielklasse. Ich war gleichzeitig Spieler und Manager, mittlerweile bin ich nur noch Manager. Außerdem bin ich für den europäischen Handballverband, die EHF, als Marketing-Supervisor tätig, und ich organisiere Radrennen. Bei den Olympischen Europaspielen 2019 in Minsk war ich für den Bereich Sponsorship und Partner zuständig.

Ich bin gut vernetzt, in Belarus, aber auch im Ausland. Deshalb koordiniere ich jetzt unseren Protest. Zumindest die Hälfte der Bevölkerung konnte jahrelang gut mit Lukaschenko leben, ich muss mich zu dieser Hälfte zählen. Unsere Rechte erschienen uns nicht so wichtig, Hauptsache, es herrschte Stabilität, Hauptsache, wir hatten Arbeit. Ich hab internationale Beziehungen studiert, damals war ich politisch engagiert, natürlich für die Opposition.

Das Protestvideo der zweifachen Olympia-Silbermedaillengewinnerin Aljaksandra Herassimenja.

Nach dem Abschluss meines Studiums hab ich mich bald auf den Sport und aufs Arbeiten konzentriert. Aber nach den Wahlen im August und Lukaschenkos brutalem Vorgehen gegen Demonstranten ist es mir und vielen anderen endlich zu viel geworden. Natürlich hilft es, dass es jetzt ganz andere Kommunikationsmittel und auch -wege als früher gibt. Alle wissen, was gerade passiert, alle können es sehen.

Wir haben jetzt die Chance auf ein neues, ganz anderes Land. Es ist ein wichtiger Moment. Und der Protest der Sportlerinnen und Sportler ist besonders wichtig. Sie sind bekannt, sie sind Vorbilder. Es ist ein starkes Zeichen, wenn sie sich mit der Gesellschaft solidarisieren, für Frieden und gegen Gewalt eintreten. Es fällt auch deshalb besonders auf, weil der Sport immer in hohem Maß von der Politik, von Lukaschenko abhängig war und vereinnahmt worden ist.

Da herrscht das große Schweigen

Lukaschenko ist seit 1994 an der Macht, das wissen alle. Aber weiß man auch, dass er seit 1997 der Präsident des Olympischen Komitees von Belarus ist? Das müsste doch unvereinbar sein! Fußball und Eishockey sind die populärsten Sportarten in Belarus. Da herrscht bis jetzt, von einigen Ausnahmen abgesehen, das große Schweigen, weil es eine noch größere Abhängigkeit vom Staat gibt und weil viele Vertrauensleute des Präsidenten wichtige Positionen innehaben. Ich hoffe, auch hier wird das Schweigen gebrochen. Wir sammeln nicht nur Unterschriften, wir haben auch eine Stiftung gegründet, um Sportlerinnen und Sportlern zu helfen, die Belarusian Sport Solidarity Foundation, kurz BSSF. Sie finanziert sich vor allem über Spenden. Wir haben auf Facebook und Instagram großen Zulauf, viele Sportstars geben Stellungnahmen ab, diese Videos verzeichnen enorm viele Zugriffe. Wir lassen auch alles auf Englisch und Deutsch übersetzen.

Viele engagieren sich, wir haben Expertinnen und Experten für Kommunikation, Rechtsangelegenheiten und psychologische Beratung. Wenn jemand seinen Job verloren hat, können wir helfen. Was wir vor allem brauchen, sind Signale der internationalen Sportgemeinschaft. Die großen, wichtigen Verbände und Organisationen treten bis jetzt eher leise auf. Wir sagen: Mischt euch ein, nehmt Einfluss! Informiert euch darüber, was in Belarus passiert.

Ich will bald nach Hause

In wenigen Monaten, im Frühling 2021, soll Minsk gemeinsam mit Riga die Eishockey-WM veranstalten. Wenn tatsächlich in Minsk gespielt wird, wäre das aus heutiger Sicht eine Katastrophe. Das wäre ein Verrat an allen, die jetzt für Freiheit und Demokratie demonstrieren, auch an den belarussischen Sportlerinnen und Sportlern, die ihre Stimme erheben. Die Europaspiele vor einem Jahr waren eine andere Geschichte, kein echtes Weltsportereignis. Da gab es kaum Länder, die wirklich namhafte Sportlerinnen und Sportler geschickt haben. Das konnte man allein schon daran ablesen, dass Weißrussland im Medaillenspiegel auf dem zweiten Platz abgeschlossen hat, hinter Russland und vor der Ukraine.

Ich bin kein Politologe. Natürlich steht Belarus unter russischem Einfluss. Doch was jetzt passiert, ist kein Protest gegen Russland. Es ist auch keine proeuropäische Demonstration. Es ist der belarussische Kampf gegen einen Mann. 90 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr mit Lukaschenko leben. Er ist illegitim im Amt, er muss aufgeben. Ich hoffe, dass es Neuwahlen gibt, vielleicht eine Übergangsregierung. Ich hoffe, dass ich bald wieder zurück nach Hause kann. (Zugehört und aufgezeichnet hat Fritz Neumann, 11.9.2020)