Minsk 2020, Kiew 2013: Die beiden Protestbewegungen haben oberflächlich vieles gemeinsam.

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Blickt man tiefer, gibt es aber klare Unterschiede.

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Der Eindruck, den die Bilder aus dem allsonntäglichen Minsk vermitteln, weckt Erinnerungen an eine Revolution im Nachbarland. Vor sechs Jahren protestierten die Ukrainer gegen ihren Präsidenten Viktor Janukowitsch. In der Folge kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, dem Sturz des Kleptokraten und massiven Spannungen zwischen Ost und West, die in der russischen Annexion der Krim, einem bewaffneten Konflikt im Donbass-Gebiet und Wirtschaftssanktionen auf dem Kontinent gipfelten.

Die jetzigen Proteste gegen Belarus' Präsidenten Alexander Lukaschenko wecken daher bei einigen Beobachtern ähnliche Befürchtungen. Besonders in Moskau herrscht Alarmstufe Rot. Dabei positioniert sich die Opposition in Belarus völlig anders als ihre Vorgänger in der Ukraine.

Schwächlinge und Psychosen

Die postsowjetische Geschichte der beiden slawischen Nachbarvölker ist sehr unterschiedlich verlaufen: In der Ukraine brodelte es ständig. Belarus hingegen verfiel nach einer kurzen durch Chaos und Armut gekennzeichneten Aufbruchphase schnell in politische Apathie. Während die Ukraine stets zweigeteilt zwischen dem östlichen und westlichen Landesteil war, die Staatschefs einander abwechselten und das Volk dabei bereits 2004 während der Orangen Revolution seinen Kandidaten gegen den versuchten Wahlbetrug durchdrückte, glich Belarus einem Monolithen.

Seit der ersten Präsidentenwahl 1994 ist Alexander Lukaschenko unangefochten an der Macht. Die von ihm versprochene Stabilität wurde schnell zu einer Betonfestung, doch mit Blick auf die Unsicherheit in den Nachbarrepubliken stellte sein Regime viele Belarussen zufrieden. Proteste gab es auch in Minsk immer wieder, doch mit harter Hand schlug er diese nieder. Nicht wenige politische Opponenten verschwanden spurlos.

Doch nach mehr als einem Vierteljahrhundert haben die Bürger ihn gründlich satt. Seit zehn Jahren sind die Durchschnittsgehälter nicht gestiegen, 500 Dollar ist die Obergrenze, an der sie allen Versprechen Lukaschenkos zum Trotz immer wieder abprallen. Unzufriedenheit rief auch der Umgang des Staatschefs mit der Corona-Krise hervor, als er Kranke als Schwächlinge abstempelte und von einer Psychose sprach.

Andere Ausgangssituation

Die Umbruchstimmung war vor der Wahl greifbar, und die schamlose Fälschung der Ergebnisse, die mit offiziell 80 Prozent für Lukaschenko allgemeine Zustimmung für "Batjka" suggerieren sollte, war dann der Auslöser für die Proteste. Die Knüppeleien der Polizei wirkten nur als Brandbeschleuniger und entfachten die Demonstrationen mit neuer und bislang für Belarus ungekannter Stärke.

In der Ukraine vor sechs Jahren hingegen zweifelten selbst die Demonstranten nicht die Wahl Janukowitschs zum Präsidenten an. Ärger riefen hier vielmehr Korruption und Vetternwirtschaft hervor, die – stets vorhanden – unter ihm dramatisch zugenommen hatten. Eine Umverteilung des Eigentums zugunsten von Verwandten und Freunden Janukowitschs vertiefte auch in der Wirtschaftselite die Gräben.

Zum Verhängnis wurde dem Präsidenten dann sein Zickzackkurs zwischen Russland und der EU. Buchstäblich in letzter Minute sagte er die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU ab, nachdem Moskau einerseits quasi mit Wirtschaftssanktionen (Schließung des eigenen Markts) gedroht und andererseits mit einem Milliardenkredit und Gasrabatten gelockt hatte. Die daraufhin in Kiew beginnenden Studentenproteste wurden ebenfalls anfangs mit Polizeigewalt zerschlagen und wurden daraufhin immer größer.

Politische Orientierung

Der Auslöser der Proteste bringt einen weiteren wichtigen Unterschied zum Vorschein: Während der aus dem Donbass-Gebiet kommende Janukowitsch als prorussisch galt, definierte sich die ukrainische Opposition entweder als prowestlich oder als nationalistisch. In jedem Fall wollte sie eine klare Abkehr von Moskau.

In Belarus hingegen sieht die Lage anders aus. Auch wenn sich jetzt Lukaschenko, der EU-Sanktionen nur aufgrund eines Vetos aus Zypern vorläufig entging, gegenüber Moskau als einziger treuer Vasall präsentiert, so waren die Beziehungen vor der Abstimmung alles andere als konfliktfrei. Lukaschenko betrieb mit einer dezidiert antirussischen Agenda Wahlkampf. Wenn er von "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" sprach, gingen die Vorwürfe eindeutig in Richtung Moskau. Selbst vor der Festnahme russischer Söldner in Minsk schreckte er nicht zurück.

Emanzipation nur ein halbes Ziel

Für die Opposition hingegen war nie die politische Emanzipation gegenüber Russland, sondern stets gegenüber Lukaschenko das Ziel. Eine Annäherung an europäische Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte bedeutet nicht, dass sie die Beziehungen zu Russland auf den Kopf stellen will.

Das angebliche Verbot der russischen Sprache und selbst der Austritt aus dem Vertrag für kollektive Sicherheit haben – anders als von Lukaschenko behauptet – keine Mehrheit innerhalb der Opposition. Die inzwischen wegen "versuchten Staatsstreichs" inhaftierte Maria Kolesnikowa war Stabschefin von Viktor Babariko, der als Chef der eng mit Gazprom verbandelten Belgazprombank gearbeitet hat.

"Dass wir mit Russland aufhören zu kommunizieren, steht bei uns Belarussen überhaupt nicht auf der Tagesordnung", sagt Kolesnikowa. 42 Prozent des Exports seien an Russland gebunden. "Viele haben Ehemänner oder -frauen in Russland, sehr viele Freunde", fügte sie hinzu. In der belarussischen Gesellschaft gibt es tatsächlich keine antirussischen Tendenzen. Es gibt familiäre und geschäftliche Bindungen. Viele Menschen arbeiten in Russland. Insofern sind sie an einer weiteren partnerschaftlichen Beziehung zwischen Moskau und Minsk interessiert.

Organisatorisches Defizit

Auch organisatorisch gibt es zwischen den Protesten am Maidan und auf dem Minsker Platz der Freiheit riesige Unterschiede. Die Opposition in der Ukraine bestand seit Jahren, beruhte auf der inneren Zerrissenheit des Landes zwischen Ost und West genauso wie auf einem Mehrparteiensystem, das zwar zahlreiche Defekte aufwies, aber trotzdem ein weites Meinungsspektrum in die politische Tagesordnung und ins Parlament einbrachte.

In Belarus hingegen hat die Opposition keine Geschichte. Alle 110 Abgeordneten des 2019 gewählten Parlaments sind Lukaschenko treu. Ob es sich um angeblich "unabhängige" Abgeordnete wie Miss Belarus 2018 und Lukaschenko-Tanzpartnerin Maria Wassiljewitsch handelt oder um Parteivertreter. Alle im Repräsentantenhaus vertretenen Parteien, Kommunisten genauso wie die fremdenfeindliche LDP, unterstützen Lukaschenko.

Bekannte Oppositionspolitiker gab es vor der Wahl nicht. Es ist kein Zufall, dass Lukaschenko über Swetlana Tichanowskaja, eine bis dahin völlig unpolitische und unbekannte Übersetzerin, stolperte. Alle anderen namhaften Kandidaten waren vorher schon aussortiert worden. Generell gilt die politische Arena in Belarus als leergefegt.

Damit fehlt der Opposition ein Netzwerk, auf das sie sich bei der Organisation der Proteste stützen kann. Als Instrument der Koordination dienen so Telegram-Kanäle und Internetmedien, die das Regime wiederum versucht mit Netzblockaden auszubremsen. Und doch haben sich die Oppositionellen auf eine Linie geeinigt, die sie vom Maidan unterscheidet: Sie wollen einen gewaltlosen Umbruch im Land. Daher bleiben die Demonstrationen auch einen Monat nach der Wahl weitgehend friedlich. Und geht es nach Kolesnikowa und Co, soll das auch bis zum Ende so bleiben. "Die Stärke der Belarussen besteht darin, dass sie selbst in dieser schweren Lage mit einem Polizeistaat zivilisierte Menschen bleiben", sagte sie. (André Ballin aus Moskau, 11.9.2020)