Mehr als 2,3 Millionen Mal haben sich Joachim Meyerhoffs Bücher in Österreich und Deutschland verkauft. In seinem sechsteiligen Romanzyklus Alle Toten fliegen hoch erzählt der vielfach ausgezeichnete Schauspieler seit 2011 aus seinem Leben. In diesen Tagen erscheint der fünfte Band, Hamsterim hinteren Stromgebiet (Kiepenheuer und Witsch), in dem Meyerhoff davon berichtet, wie er mit seinem Schlaganfall vor anderthalb Jahren umgegangen ist. Der 53-Jährige war 14 Jahre lang Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters und wechselte 2019 zur Berliner Schaubühne.

STANDARD: Im Sommer 2019 haben Sie Ihre letzte Vorstellung am Burgtheater gespielt und sind kurz darauf nach Berlin gezogen. Woran denken Sie zuerst, wenn Sie auf Ihre Zeit in Wien blicken?

Joachim Meyerhoff: Es waren wunderschöne, ereignisreiche und künstlerisch sehr intensive 14 Jahre. Wien war der zentrale Ort meiner Theaterlaufbahn, und ich glaube nicht, dass ich noch einmal so ident und heimisch werde mit einem Theater. Dieser Klotz in der Mitte der Stadt hat mir Halt gegeben. Er war ein Zuhause für mich und hat mich geprägt. Erst am Burgtheater habe ich wirklich Zutrauen in meine Arbeit bekommen, und erst dort habe ich vollkommen angenommen, dass ich Schauspieler bin. Hinzu kommt: Dieser Weg des Legasthenikers aus der norddeutschen Provinz, der zum Großschaupieler am Burgtheater avancierte, macht mich fassungslos. Darüber muss ich immer noch grinsen.

STANDARD: Dennoch haben Sie sich entschieden, zu gehen.

Meyerhoff: Ich hatte nach den 14 Jahren das Gefühl, dass mich in Wien irgendetwas lähmte. Ich brauchte eine neue Herausforderung und musste weiterziehen. Dass ich die Zeit nicht anhalten kann, hatte ich zuvor schon schmerzlich erfahren: Der Tod einiger der großen Schauspieler, mit denen ich spielen durfte, von denen ich so viel gelernt habe, die für dieses wunderbare Ensemble standen, hatte mich zur Verzweiflung getrieben. Ich vermisse auch heute noch Ignaz Kirchner, Johann Adam Oest und Gert Voss, die während meiner letzten Jahre am Burgtheater gestorben sind.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch schreiben Sie darüber, wie Sie selbst in Todesgefahr schwebten, nachdem Sie vor anderthalb Jahren einen Schlaganfall hatten. Wie fühlen Sie sich heute?

Meyerhoff: Sehr gut. Ich empfinde eine große Dankbarkeit, dass alles so glimpflich ausgegangen ist. Ich kann meine linke Körperhälfte, die damals von einer Sekunde auf die andere gelähmt war, wieder bewegen. Manchmal schleicht sich von hinten eine Verunsicherung heran, so eine Art posttraumatisches Syndrom, dass der Moment des Umkippens wiederkommt. Aber auch das passiert immer seltener.

Joachim Meyerhoff: "Ich empfinde eine große Dankbarkeit, dass alles so glimpflich ausgegangen ist."
Foto: Reinhard Maximilian Werner

STANDARD: Sie schildern Ihre Krankheit und deren Folgen mit erstaunlich viel Humor. Darf man beim Lesen lachen, während Sie leiden?

Meyerhoff: Selbstverständlich! Ich betrachte die Komik als Schlupfloch aus der Unentrinnbarkeit der eigenen Hilflosigkeit. Und Humor ist immer ein Trostpflaster. Bestimmte Worte wie Schlaganfall, Krebs, Aids und andere dieser schlimmen Diagnosen haben eine enorme Bugwelle, und man muss sich sehr genau überlegen, was diese bewirkt. Ich habe mich für das Lachen entschieden, denn es ist eine hervorragende Möglichkeit, um überhaupt vom Leid erzählen zu können. Meine größte Sorge war von Anfang an, dass die Schilderung meines Erlebnisses in Betroffenheitsliteratur mündet – die Folgen wäre Sorge und Mitleid bei meiner Leserschaft, und genau das wollte ich vermeiden.

STANDARD: Hatten Sie als Patient das Gefühl, gegen den Schlaganfall kämpfen zu müssen?

Meyerhoff: Ich mag das Wort Kampf grundsätzlich nicht, vor allem in Bezug auf Krankheiten. Mir ist schon bewusst, dass es im Englischen bei Krebs "to fight cancer" heißt, dort gibt es sogar nur diese eine Formulierung, und daraus entsteht auch eine entsprechende Haltung gegenüber der Krankheit. Ich kann verstehen, dass man das so beschreibt, aber mir selbst ist das nie als gangbarer Weg vorgekommen.

STANDARD: Warum nicht?

Meyerhoff: Ich hatte das Gefühl, dass es für mich besser ist, meine Krankheit anzunehmen und zu inkludieren. Ich bin ja nicht hier und der Schlaganfall dort. Wir sind eine Einheit, und dann hätte ich ja gegen mich selbst kämpfen müssen. Zweifellos braucht man nach so einer Diagnose viel Disziplin, und man muss sich durchbeißen, das strengt an. Aber von einem Kampf würde ich nie sprechen, auch im Theater nicht.

STANDARD: Dabei spielen Sie auch durchsetzungsstarke Figuren, die als Kämpfer wahrgenommen werden. Und Ihr physischer Einsatz auf der Bühne ist ja tatsächlich außerordentlich hoch.

Meyerhoff: Dennoch ist das kein Kampf. Eher eine Obsession, eine Lust, eine Besessenheit, vielleicht auch Fanatismus. Kampf beinhaltet immer einen Gegner, und wer sollte das sein? Ich bin besessen von meinem Text bei einer Vorstellung, überwältigt und erfüllt, aber nie gegen etwas. Im Gegenteil: Ich versuche mich immer in den Dienst einer Sache zu stellen, am liebsten mit psychischer und physischer Verausgabung. Ich würde sogar sagen, dass mein gesamter Erfolg darin bestand, mich in physischen Grenzbereichen auszutoben. Aber das ist ein eher kindliches Bild, dieses Toben. Etwas Spielerisches, keine Kampfmetapher.

STANDARD: Können Sie diese Grenzbereiche auch nach dem Schlaganfall ausloten?

Meyerhoff: Mal sehen, ob sich die Grenze für mich nun etwas verschoben hat. Das hat aber auch mit dem Alter zu tun. Ich bin dieses Jahr 53 geworden, und manchmal denke ich: Hochleistungssportler, etwa Fußballer, beginnen als Profis mit 16 Jahren, spielen dann vielleicht 20 Jahre, und dann ist es vorbei. Ich habe 30 Jahre exzessiv Theater gespielt – vielleicht sollte ich mich also auch mal anders auf der Bühne verhalten, als zu denken, ich wäre das Auge des Orkans und könnte die ganze Welt auseinandernehmen. Andererseits macht es natürlich nur Spaß, Theater zu spielen, wenn es eine gewisse Fahrlässigkeit im Umgang mit der eigenen Gesundheit gibt. Achtsamkeitstheater funktioniert nicht.

STANDARD: Das aktuelle Theater unter Berücksichtigung der Corona-Schutzmaßnahmen kann Ihnen dann kaum Freude bereiten.

Meyerhoff: Es ist in der Tat furchtbar. Ganz, ganz schrecklich! Ich habe zwar nichts dagegen, dass nun ein bestimmter Pragmatismus herrschen muss. Aber die Zuschauerzahlen zu reduzieren und die Schauspieler voneinander zu distanzieren entspricht dem Gegenteil dessen, was mich am Theater reizt. Ich liebe es, wenn der Saal übervoll ist und die Schauspieler aufeinandergehetzt werden und in Umarmungen schreiend und lachend aneinanderhängen.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um, dass Sie nach dem Schlaganfall und während des Pandemie-Lockdowns auf solche Erlebnisse verzichten mussten?

Meyerhoff: Die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich körperlich ausagieren konnte, fehlt mir. Das Tolle am Theater ist ja auch, dass man die Fitness mitgeschenkt bekommt. Dieses tägliche Ganzkörpertraining ist so etwas wie Aikido mit Gedichteaufsagen, dazu Atmen, Reden, Rennen, Schreien. Wenn man das nicht mehr hat, fühlt man sich ein bisschen wie aufs Abstellgleis geschoben. Ich habe den Lockdown aber auch genossen. Das war wie eine von außen auf mich hereinbrechende zusätzliche Reha. Die Stille hat mir gutgetan. Allmählich reicht es aber auch.

STANDARD: In Ihren Büchern erzählen Sie detailliert von Erlebnissen, die oft Jahrzehnte zurückliegen. Haben Sie eine sehr gut ausgeprägte Erinnerungsgabe oder eine sehr gute Fantasie?

Meyerhoff: Ich kann mich tatsächlich sehr gut erinnern und brauche für meine Bücher keine Recherche, keine alten Unterlagen. Faktische Dinge vergesse ich eher, aber ich habe so eine Art atmosphärische Erinnerung, die ganz stark ist. Ich weiß genau, wie sich bestimmte Situationen in ihrer Gesamtheit angefühlt haben.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung für dieses Talent?

Meyerhoff: Vielleicht liegt es am Theater: Dort mache ich seit 30 Jahren nichts anderes, als mir immer wieder Situationen plausibel zu machen. Wieder und wieder, wie in einem Dauertraining, vergegenwärtige ich mir bestimmte Momente, mit Sprache und mit meinem Körper, sodass sie einen Sog entwickeln und in diesem einen Augenblick auf der Bühne stattfinden. In meinen Büchern läuft das ähnlich; es sind sehr physische Bücher und keine Weltreflexionen, in denen große Kenntnisse präsentiert werden. Sie funktionieren über das Situative. Ich weiß auch jetzt noch genau, wie es sich nach dem Schlaganfall im Krankenhaus anfühlte, mein Körper, meine Gedanken, meine Gefühle, das alles ist mir sehr nah.

STANDARD: Heißt das, Sie tragen alles, was Sie erlebt haben, ständig mit sich herum?

Meyerhoff: Vieles, ja. Und durch die Bücher habe ich Dependancen, in denen meine Erinnerungen vor sich hin wohnen können. Dort sind sie auf sich selbst gestellt, das ist doch schön. Ich mag es, meine Erinnerungen zu verteilen, dann rieseln sie ein bisschen weg, Das ist eine romantische Vorstellung: Bücher sind vom Autor gepackte Päckchen, die man unter die Menschen bringt.

STANDARD: Haben Sie denn keine Scham, in Ihren Büchern und auf der Bühne so viel Privates preiszugeben?

Meyerhoff: Doch. Ohne Scham funktioniert das alles nicht, und das Überwinden der Scham ist auch im Theater ein ganz wesentlicher kreativer Punkt. Sonst wüsste man nur ganz wenig über die Figuren, die man spielt. Wenn ich etwa Thomas Melles Die Welt im Rücken spiele, hat meine Rolle unglaublich viel mit Scham zu tun. Ich durchbreche darin die manischen Phasen und werde anschließend von Scham erdrückt, ja fast zerstört, und drifte in eine tiefe Depression ab.

STANDARD: Sowohl im Theater als auch in Ihren Geschichten überschreiten Sie regelmäßig Grenzen. Übertreiben Sie gerne?

Meyerhoff: Ja. Denn für mich liegt in der Übertreibung immer auch die Wahrheit. Ich übertreibe nicht der Übertreibung willen, sondern weil sich dadurch der Kern der Dinge zeigt. Denn es ist doch so: Bei fast allen Situationen liegt sehr viel drüber, alles ist gepuffert, gepanzert und verdeckt. Diesen Ballast möchte ich beim Schreiben durch Übertreibung wegbekommen, damit man die Sicht auf das bekommt, was sich wirklich ereignet. Auf der Bühne geht es mir auch um die Übertreibungskunst. Das mag vielleicht ein bisschen nach Zampano klingen, aber wenn Sie in die Kunstgeschichte schauen, sehen Sie überall Übertreibungen: Expressionismus, Impressionismus und viele andere Kunstformen sind Übertreibungs- oder Verdeutlichungskünste.

STANDARD: Sie sagen, dass das Schreiben für Sie keine Abrechnung sein soll. Was dann?

Meyerhoff: Meine Literatur entsteht eher aus der Sehnsucht nach einer gewissen Festlichkeit. Im Theater beginnt das schon mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, der Vorfreude der Schauspieler, der Anspannung hinter den Kulissen. Und dann passiert etwas Einmaliges, wenn es toll läuft. Bücher können dieses Festliche manchmal sogar noch besser erzeugen, denn darin kann man unglaublich viele verschiedene Genres durchspielen. In meinem neuen Roman füge ich sehr unterschiedliche Textbausteine zusammen: Sie reichen von banalen, grotesken und anekdotischen Dingen bis zu schmerzlichen Reflexionen und Reiseliteratur. Das spiegelt die Zeit nach dem Schlaganfall wider, die für mich ein Wechselbad war – und für meine Leser und Leserinnen wird sie hoffentlich auch ein Erlebnis, in dem sie sich wiederfinden.

STANDARD: Im Buch schreiben Sie: "Nach all der Aufregung genoss ich die Stille, ja auch die Geborgenheit, die eine Katastrophe auslösen kann, wenn man sich ihr ergibt." Hat der Schlaganfall Ihnen also auch positive Momente beschert, die Sie sonst nicht erlebt hätten?

Meyerhoff: Als die Todesangst weg war, sich die Türchen langsam wieder öffneten und ich merkte, dass es wohl doch gut ausgehen könnte, entstand tatsächlich eine fast sakrale Stimmung, eine Stille, die ich so noch nicht kannte. Das hatte etwas sehr Bewegendes. Es erinnerte mich ein bisschen an einen furchtbaren Hurrikan, der über New York zog. Am Tag danach war dort eine unfassbare Stille; das hatte etwas Magisches.

STANDARD: Glauben Sie, dass etwas von dieser Stille in Ihrem Leben bleiben wird?

Meyerhoff: Ich hoffe sehr, dass ich bestimmte Erkenntnisse mitnehme. Aber der Alltag ist ein gefräßiges Monster, und er frisst ruhige Minuten als Leibspeise. Ich habe einen kleinen Sohn und zwei Töchter und meistens das Gefühl, dass ständig etwas los ist – ich fürchte, das mit der Stille wird nicht einfach.

Joachim Meyerhoff, "Hamster im hinteren Stromgebiet". € 24,– / 320 Seiten. Kiepenheuer & Witsch 2020

STANDARD: Zurück zu Wien: Stimmt es, dass Sie einen ganz speziellen Bezug zum Zentralfriedhof haben?

Meyerhoff: Das kann man wohl sagen! Friedhöfe haben mich schon immer fasziniert, aber in Wien ist diese Leidenschaft erst richtig zur Entfaltung gekommen. Sie könnten mir die Augen verbinden und mich am Zentralfriedhof an Tor 1, 2 oder 3 stehenlassen, und ich würde trotzdem viele bestimmte Gräber finden, ohne etwas zu sehen. Eines meiner Lieblingsgräber ist das von Franz West, der einen komischen pinkfarbenen Penis als Grabstein hat, bei dem man nicht versteht, wie er das an der Friedhofsverwaltung vorbeigeschafft hat. Gleich um die Ecke steht der Marmorflügel von Udo Jürgens, aber dieses geschlängelte pinke Kunstwerk ist eine Sensation, da stehen die Leute kopfschüttelnd davor, und ich finde es grandios.

STANDARD: Was reizt Sie an Friedhöfen, abgesehen von komischen Gräbern?

Meyerhoff: Sie sind geschützte, ruhige Zonen, in die ich vor dem Lärm und der Enge der Städte fliehe. Friedhöfe gehen eine Einheit ein mit dem Morbiden und dem Melancholischen, und das mag ich. Dann sitze ich dort im Stillen und denke über die Verstorbenen nach. Das hat mit meiner Sehnsucht nach einer Versöhnlichkeit mit den Toten zu tun; auf Friedhöfen kann ich in ein unglaublich tiefes Gespräch mit ihnen geraten. Bäume habe für mich übrigens die gleiche Funktion. Sie bilden unverrückbare Räume, in denen die Dinge zur Ruhe kommen. Nehmen Sie die Morgenländische Platane auf dem Rennweg, gleich beim Eingang des Botanischen Instituts der Uni Wien. Dieser Baum ist 250 Jahre alt, und ich stelle mir in seiner Gegenwart immer vor, wer schon alles an ihm vorbeigegangen und vorbeipatrouilliert ist. Bäume und Friedhöfe gestatten mir so einen Blick zurück in die Geschichte. (Günter Keil, 11.9.2020)