Ein Lektor ist eine unscheinbare Person, besser gesagt: gar nicht sichtbar. Die Person verschwindet hinter dem Werk anderer Personen. Im besten Fall erlebt man einen Lektor oder eine Lektorin dann und wann, wenn er eine "seiner" bzw. "ihrer" Autorinnen oder Autoren bei einer Lesung einführt. Raimund Fellinger, der dieses Jahr verstorbene Cheflektor des Suhrkamp-Verlags, zuständig u. a. für Thomas Bernhard und Peter Handke, wurde einer größeren Öffentlichkeit zum ersten Mal vor wenigen Jahren durch ein unterhaltsames Interview in der Süddeutschen Zeitung bekannt, in dem er den Satz äußerte: "Welcher Schriftsteller ist kein Kotzbrocken?"

Wer näher in einen Verlag hineinschauen kann, dem verschieben sich die Perspektiven. Fellinger, von Krankheit schwer gezeichnet, machte unmittelbar vor seinem Tod noch die Reiseberichte Siegfried Unselds und eine Essay-Sammlung von Peter Suhrkamp fertig zum Druck. Jeder im Verlag sagte anschließend ganz natürlich, das waren "Fellingers" letzte Bücher. Obgleich er sie nicht selbst geschrieben hatte. Aber die Bücher sind selbstverständlich Kinder auch des Lektors. Keine Ahnung, wie viele Bücher Raimund Fellinger seit den 80er-Jahren bei Suhrkamp betreut hat. Aus der Verlagsperspektive war Raimund Fellinger ein Gigant.

Lektor und Thomas-Bernhard-Spezialist Raimund Fellinger: "Welcher Schriftsteller ist kein Kotzbrocken?" Das sagte er einst in einem berühmt gewordenen Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".
Foto: APA/FOTO JÜRGEN BAUER

Zu den öffentlich unsichtbaren Aufgaben eines Lektors gehört die Autorenpflege. Das meint vielerlei. Das Werk gehört gepflegt, in der Öffentlichkeit gehalten. Raimund Fellinger hat bis zu seinem Tod immense Arbeit z. B. in das Werk Thomas Bernhards investiert. Er war Mitherausgeber der großen Bernhard-Gesamtausgabe und betreute sie im Verlag, gab zahlreiche Bernhard-Anthologien heraus, etwa die erfolgreichen Städtebeschimpfungen, äußerte sich aber auch selbst immer wieder bezüglich der Einschätzung von Bernhards Werk, durchaus im mahnenden Sinn. Er wehrte sich gegen die Tendenzen, das "Werk Bernhards unter Absehung all seiner Provokationen auf einen ständiges Lachen versprechenden Konsumartikel zu reduzieren". Noch vier Tage vor seinem Tod schickte mir Fellinger eine neue Skizze zu Bernhards Autobiografien, und das letzte von ihm avisierte Projekt, wiederum eine Anthologie, war unter dem als Titel verwendeten Zitat Thomas Bernhards geplant: "Ich nehme das als weiteren Beweis meiner Glücksexistenz."

Anekdoten sonder Zahl

Autorenpflege meint aber auch, die Verbindung zwischen Autor/Autorin und Verlag zu halten und atmosphärisch gut oder mindestens erträglich zu gestalten. Hierin existiert natürlich, wie auch Fellingers Kotzbrocken-Interview wunderbar pointiert zeigt, eine große Falltiefe. Das muss man sich dann teilweise eher therapeutisch vorstellen. Als Autor willst du, dass der Lektor ständig erreichbar ist. Bei den kleinsten Problemen oder Unsicherheiten willst du ihn anrufen können, einbestellen können. Ist dir langweilig oder brauchst du Fellpflege, muss er dich zum Essen einladen. Die sinnfreiesten Auslassungen muss er sich anhören, er muss sich Zeit mit dir totschlagen und darf sich keinesfalls anmerken lassen, dass, während er mit dir stundenlang herumsitzt und dir gerade auf Verlagskosten die dritte Flasche Wein ausgibt, zu Hause ein riesiger Berg Arbeit auf seinem Schreibtisch wartet. Und er muss natürlich dein Manuskript eine Stunde nach Abgabe gelesen haben.

Ein ganz schwieriges Thema sind natürlich die anderen Autorinnen und Autoren. Gemeinhin will man ständig sehr genau über die anderen informiert sein, lässt sich das aber nicht anmerken, was aber der Lektor immer durchschaut. Gute Verkaufszahlen anderer Autoren: ein strikt zu meidendes Thema. Sonstige Erfolge, Preise – ganz schlecht. Aber der Lektor (natürlich auch der Verleger) darf über die anderen auch nicht einfach schweigen, sonst hätte er ja etwas zu verbergen. Der Erfolg der anderen kommt natürlich immer dadurch zustande, dass der Verlag sich viel mehr für diese einsetzt. Im Briefwechsel Bernhards mit seinem Verleger Unseld kann man das genüsslich nachlesen. Aber das betrifft nicht allein Thomas Bernhard, man kann hier aus der Epoche von Max Frisch bis zu ihm eigentlich beliebige Namen einsetzen. Der Anekdoten existieren zahllose.

Psychische Ungewöhnlichkeiten

So sitzt der Lektor dem Autor gegenüber wie ein Therapeut, dem völlig klar ist, dass er seinen Patienten unter keinen Umständen reizen darf. Nun ist es aber so, dass "große Kunst" mitunter aus dem entsteht, was in anderen Zusammenhängen wohl Defekte oder mindestens psychische Ungewöhnlichkeit genannt werden würde. Ein Mensch, der mit sich und der Welt keine Probleme hat, wird eher nicht zum Papier greifen. Die oben umrissene Epoche von Frisch bis Bernhard zeigt meist den Schriftsteller (ebenso die Schriftstellerin) als den "tief Nachdenkenden" oder den "tief Gequälten", also auf jeden Fall als einen Menschen mit großem Wahrheits- und Leidensanspruch. Das heißt, der Lektor hat es zu allem auch noch mit einer besonders reizbaren Gattung Mensch zu tun. Ich habe Raimund Fellinger nach Reisen zu Autoren erlebt, von denen er schlichtweg zerstört zurückkam, bis in die Grundfesten beleidigt und erschüttert. Er hat manchmal Tage gebraucht, um wieder in Fasson zu kommen. Siegfried Unseld konnte in seinen Reiseberichten, die Fellinger am Ende seines Lebens herausgegeben hat, dasselbe Lied singen. Was Fellinger auf die hintere Klappe des Unseld-Buchs setzte, war erkennbar auch das Arbeitscredo Fellingers selbst: "Ich hatte bis zu diesem Datum ... darauf gebaut, dass es auch Freundschaft zwischen Autor und Verleger geben könne, aber seit diesem Datum weiß ich, dass ich mich darauf einstellen muss, das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur Arbeit." Unseld war damals gerade mal wieder von Max Frisch gedemütigt worden.

Fellingers größte Fähigkeit

Für Fellingers größte Fähigkeit halte ich, wie er Werke begreifen konnte. Ich meine gar nicht einmal intellektuell, sondern tiefer in die Schichten der Sprache des jeweiligen Textes hinein. Fellinger hatte ein grundlegendes Gefühl für den Stil und die Möglichkeiten eines einzelnen Textes. Die innere stilistische Kohärenz eines Textes noch einmal zu vertiefen, die Sprache eines Textes um so schlackenloser zu sich kommen zu lassen, das war sein Credo. Dabei ging es nie um die Erzeugung eines "Fellinger-Stils". Den gab es nur in seinen eigenen Texten (die stets zu Hypotaxen und äußersten Verkürzungen tendierten). Es ging nicht einmal nur darum, etwa den "Thomas-Bernhard-Stil" oder den "Peter-Handke-Stil" etc. verinnerlicht zu haben. Es ging tatsächlich um jedes einzelne Buch. Von jedem Buch zum nächsten verschiebt sich etwas, ordnet sich neu, anders, bei allen Autorinnen und Autoren. Fellinger hatte hunderte Sprachen und hunderte Stile begriffen, Buch für Buch. Das ist für mich das Erstaunlichste, weil es nicht ohne die Tatsache geht, für eine Weile tatsächlich nur in diesem Buch zu leben, als sei es das Wichtigste auf der Welt. Einmal meinen Text gelesen, und Fellinger kannte ihn so gut wie ich.

Andreas Maier, geb. 1967, ist Suhrkamp-Autor, Raimund Fellinger war sein Lektor. Zuletzt erschien "Die Familie" (2019) aus seinem Zyklus "Ortsumgehung".
Foto: Imago

Eine weitere nicht zu unterschätzende Kunst liegt darin, ganz verschiedene, teilweise diametral entgegengesetzte Autorenpersönlichkeiten unter einem Hut halten zu können. Das muss man sich durch Folgendes klarmachen. Fellinger betreute Manuskripte von Thomas Bernhard bis Uwe Tellkamp. Das klingt für einige heute schon so, dass sie Herzrasen bekommen.

Das so ziemlich Wichtigste auf der Welt

Ob Handke, ob Sloterdijk, es war für Raimund Fellinger so ziemlich das Wichtigste auf der Welt, dass Meinungen, Positionen unbedingt auf den Tisch gehören. Jeder muss alles sagen können, nichts davon darf aus moralischen Erwägungen desavouiert werden, es darf keine Vorauswahl geben. Fellinger betreute Autoren, die ich zum Teil aus verschiedenen Gründen ablehne, zugleich betreute er Autoren wie mich (manche werden mich ebenfalls aus verschiedenen Gründen ablehnen). Erst wenn man das Prinzip begreift, das auch immer das Prinzip des Suhrkamp-Verlags war und diesen Verlag so berühmt gemacht hat, dann hat man die wirkliche Arbeit Fellingers vor sich, neben seinen Idolen wie Handke und Bernhard (dem er im Moment seines eigenen Todes wohl am nächsten war): In der Welt wird miteinander geredet, in der literarischen Welt geschieht das mittels Büchern und sonstigen Äußerungen, und erst wenn das umfassend möglich ist, ist die Welt zwar nicht im Guten und im Gleichgewicht (vielleicht wäre sie dann ja sowieso ein unlebendiges Ganzes), dafür aber offen und gärend. Das heißt selbstverständlich auch, Autoren zu betreuen, die ein möglicherweise völlig konträres Weltbild zu einem selbst haben. Gefahren vermeiden, das war nicht Fellingers Ding. Das Einzige, was für Fellinger abzulehnen war, aber das ist eine Binse, war schlechte Qualität. (Andreas Maier, ALBUM, 12.9.2020)