Für R. F.

"Die Poesie, wie Sie sie verstehen, ist nichts. Die Poesie, wie die Welt sie versteht, wie es der Poesieherunterleser versteht, ist nichts. (...) Die Poesie, die ich meine, ist etwas ganz anderes. Würden Sie diese Poesie meinen, so hätten Sie recht. So müsste ich Sie umarmen. Ich müsste Sie, ja, ich hätte die Möglichkeit, Sie zu umarmen!"

Ein Gasthaus in Österreich. Fliesen auf dem Gang. Fliesen auch im Schankraum. Eine Bar aus billigem hellem Holz. Männer mit Bier. Keine Tischtücher an den Tischen, erst im leeren, zweiten Raum gab es solche. Warme Küche, die Speisekarte umfangreich. Der Durchfall später ebenso, in der Nacht Unwetter. Es war der Sommer 2011, in dem ein Mann unzählige Jugendliche auf einer norwegischen Insel niedermetzelte. Im Gasthaus, an der Bar, anschwellende Sätze über die Börsen- und Finanzkrise. Der Umstand des Zuhörers im Nebenraum bremste kaum.

Das Gasthaus als Ort des Meinungsaustausches
Foto: Christian Fischer Fotografie

23. Juni 2020. Nachdem sich in Deutschlands größter Schweineschlachtfabrik über 1700 Menschen mit Covid-19 infiziert hatten, nahm die Parteivorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Österreichs Stellung. In Fleischfabriken, sagte sie, müsse mehr getestet werden. Sie sagte: Es. Die Arbeiterinnen und Arbeiter benannte sie nicht. Lediglich die Arbeitsbedingungen als fixes Faktum, den engen Raum und die Kälte als erhöhte Ansteckungsgefahr. Mehr Tests, das war in ihrer Gleichung die einzige Variable.

An der Bar machte einer einen Judenwitz. Die Trinker hatten sich warmgeredet. Viele Sätze hatten sie nicht gebraucht. Dazwischen Kopfnicken und Pausen, das Abstellen und erneute Zur-Hand-Nehmen der Bierkrüge. Warmgeredet bedeutete, ihre Stimmen brachen. Keine Rage, stattdessen erste Anzeichen, dass den Trinkern die eigene Stimme wieder einmal ertrank. Ja, genau!, quittierte einer, er hatte den Witz verstanden. Die anderen auch.

Weinstein, Polanski, Allen

Harvey Weinstein, Romans Polanski, Woody Allen ... kann man deren Filme noch guten Gewissens schauen? Wo wir doch nunmehr schmerzlich wissen, dass es sich bei diesen dreien allesamt um (die Kabarettistin schluckt indigniert, schließt kurz die Augen) ... na, ich mag es gar nicht sagen ... und als wär das gar nicht schlimm genug, belästigen sie auch noch Frauen (fröhliches Lachen). Weinstein, Polanski, Allen, geborener Allen Königsberg ... finden Sie dieses MeToo nicht auch antisemitisch? Es ist ja wohl nur gut und recht, wenn wir den Juden jetzt gestatten, ein paar Frauen auszugreifen. Mit Geld ist ja nichts gutzumachen – ich meine, den Juden Reparationen zu zahlen, das ist, wie Didi Mateschitz ein Red Bull auszugeben.

Doch MeToo trifft nicht nur Juden, sondern neuerdings auch Schwarze wie Morgan Freeman und Bill Cosby sowie den schwulen Kevin Spacey. Wenn jetzt noch ein Rollstuhlfahrer einer Dame zu lange aufs Gesäß schaut, was zugegeben in seiner Position nicht zu tun sehr schwierig ist – oder, noch besser, wenn ein Mann, der einmal zuvor eine Frau war, sein chirurgisch konstruiertes Tata von Gemächt, ungefragt, voll Nostalgie, an seinem einstigen Geschlecht reibt, was tun wir dann? Was tun, wenn die Unantastbaren beginnen, andere anzutasten? Der feuchte Albtraum der politischen Korrektheit, die heilige Kuh, hat BSE! Und der Elefant Mensch ist ein oberflächliches Arschloch.

"Mich allem aussetzen, was gegen mich auftritt"

Sommer 2020 bedeutete auch eine Rassismusdebatte über Otto – der Film,Überlegungen zu vorsorglichen Wort- und Begriffsstreichungen bei Pippi Langstrumpf oder Jim Knopf, Müllhaldenvergleiche mit der deutschen Polizei sowie vielfältigste Legitimationen durch das Wort Betroffenheit, dazu passend ein aus persönlicher Betroffenheit entfachter Shitstorm gegen ein Wiener Gasthaus, bei gleichzeitiger Gesprächsverweigerung mit den vom digitalen Urteilssturm persönlich Betroffenen. Zusätzlich noch die beinahe identische Reduplikation des Begriffs Identitätspolitik,einerseits austariert durch die Debatte über Cancel-Culture,andererseits überschattet von Bürgerkriegsszenarien in den USA, die nicht allein auf dem Schlachtfeld des polizeilichen Rassismus drohten.

Wenn er ins Gasthaus eintrete, ließ ein Schriftsteller einmal einen Maler sagen, der sich selbst lieber als Anstreicher bezeichnete, hebe er wieder den Kopf, "weit über sich selbst hinaus", um auf seinem Körper "wie ein Ozeanschiff in die Menscheneinöde hinauszufahren".

Bis heute wirken wie eine vorweggenommene Antwort darauf jene im Jahr 1950 geschriebenen Sätze einer Schriftstellerin, die Rindfleisch, Gasthäuser und das Abseitige ebenso wie ihr Kollege schätzte: Es fällt schwer, daran zu glauben, dass man seine Stützpunkte zurückverlegen muss, um vorzudringen. Ja, so meint man den um zehn Jahre Jüngeren zu hören: "Das Gasthaus ist mir unerträglich (...). Ich habe aber eine instinktive Lust, mich ihm auszusetzen, mich allem auszusetzen, was gegen mich auftritt. Wo Fäulnis ist, kann ich nicht genug einatmen. Dauernd möchte ich Menschengeruch einatmen, verstehen Sie."

Die Sätze und die Schuldigen

Das Gasthaus im Jahr 2011 befand sich in einer Ortschaft in den Niederen Tauern. Doch solche Orte und Gasthäuser, Tische und Theken finden sich überall. Die Sätze und die Schuldigen auch. Oft genügen Chiffren, und manchmal hat es den Anschein, lauter und deutlicher ausgesprochen als sonst wird einiges gerade im Wissen um Zuhörer.

Ganz gleich, ob es geheime Weltregierungen, Bilderberger, den Mossad oder die Ostküste betrifft. Und die Schadenfreude über Weinstein, Allen und Polanski wird in einer Weise ausgekostet, die nicht nur am Stammtisch jenen Unterton besitzt, wie ihn die Kabarettistin im Jahr 2018 mitsamt aller ebenso bezeichnender Pausen und Blicke im TV vorführte.

Anfang Juli 2020, ein Bürgermeisterbüro eines kleinen Industrieortes. Mobiliar aus den 70er-Jahren, inklusive Ahnung vergangenen Zigarettenrauches. Recherche zu einem Arbeiterstreik im großen Stahlwerk der Ortschaft im Jahr 1905 ein Jahrzehnt nachdem im Nachbartal die Sozialdemokratie gegründet wurde.

Bei dem Arbeitskampf, der zu den größten und prägendsten der Donaumonarchie zählte, ging es um geregelte Arbeitszeiten, Sonntagsarbeit, regelmäßige Löhne und die Akzeptanz von Vertrauensmännern. Doch der adelige Fabriksbesitzer ersetzte die Arbeiterschaft, verpflichtete kurzerhand Gelegenheitsarbeiter, zumeist Ungarn oder Kroaten, die zu noch geringerem Lohn arbeiteten, während auf den Streikversammlungen die Parole Hoch die internationale Solidarität! ins Leere skandiert wurde.

2020, August. Allerorten Urteile über die Kabarettistin, allerorten Verdikte. Eine Schriftstellerin schrieb allen Ernstes, vor der Kabarettistin sei noch niemand auf die Idee gekommen, Harvey Weinsteins, Woody Allens und Roman Polanskis Verhalten gegenüber Frauen in einen Zusammenhang damit zu bringen, dass sie Juden sind. Womit für die Schriftstellerin zweifellos resultierte, die Kabarettistin kritisiere den Antisemitismus nicht, sondern erzeuge ihn höchstselbst.

Literatur und Stammtisch

Den Einwand, wie viel davon stets, und nicht nur in Gasthäusern oder den gern dafür zitierten Stammtischen, zum Gerede und Geraune gehöre, akzeptierte sie zwar als sachdienlichen Hinweis, bezweifelte jedoch Ursache und Wirkung in einer Weise, die abseits völliger Unkenntnis über die Merkmale von Figurenrede und Satire eine solche nicht zuletzt über Gasthäuser befürchten lässt.

Wie kann sie das nur sagen?, entfährt es dem Bürgermeister, kaum hat das Recherchegespräch unweigerlich Fragen der Arbeitsbedingungen, des Lohndumpings und der seit Ende der 1980er-Jahre in Europa aufeinanderprallenden Lohnniveaus angesteuert.

Zum ersten Mal seit langem wollte er dieser Tage wütend seiner Parteivorsitzenden schreiben. Er habe es gelassen, müde ob der Ignoranz sozialen und ökonomischen Fragen gegenüber, die nicht nur an der Spitze der eigenen Partei herrsche, sondern auch unter vorgeblich linken Intellektuellen.

Post Skriptum: Wie wäre es, schrieb ich unter dem Eindruck dieses Sommers unlängst der Kunststaatssekretärin, tatsächlich ganze Welten zusammenzubringen. Im Gasthaus, kreuz und quer durch Österreich. Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Stammtische, Wirtinnen und Wirte. Essen, Trinken, Kultur und Streit. Meinung und Austausch? Wie in jenem hitzigen Fleischwerk namens "Frost".

"Gehen wir", sagte er, "es ist kalt." (Martin Prinz, ALBUM, 15.9.2020)