Fehlt es an Selbstvertrauen, gewinnen Ohnmachtsgefühle bis zu Resignation die Herrschaft, sagt Beraterin Christine Scheitle.

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Die Digitalisierung revolutioniert die Berufswelt. Grundlegend neue Berufsbilder verdrängen vertraute. Das zerrt an den Nerven. Das "Gift" der Verunsicherung macht zu schaffen. "Doch es gibt ein ‚Gegengift‘: Selbstvertrauen", betont die Beraterin Christine Scheitler.

STANDARD: Weshalb gerade Selbstvertrauen?

Sich bewusstzumachen, was man schon alles geschafft hat, könne das Selbstvertrauen stärken, sagt Beraterin Christine Scheitler.
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Scheitler: Selbstvertrauen ist das Rückgrat der selbstbestimmten wie selbstbewussten Handlungsfähigkeit. Eine Schlüsseleigenschaft in unserer Zeit der Transformation. Drückt doch aus dem kalifornischen Silicon Valley kommend ein Begriff der Wirtschaft den Stempel auf: disruptiv. Disruptiv bedeutet nicht weniger als ein Gleichgewicht, ein System zerstörend. Wie dieses Bröckeln des Vertrauten und Gewohnten zu schaffen macht, offenbart sich wohl am deutlichsten im alltäglichen Miteinander. Privat wie am Arbeitsplatz wuchert eine zunehmende unterschwellige Angespanntheit. Und die macht sich als schnell aufflammende Aggressivität Luft. Sich von dem belastenden Sog des Geschehens nicht in den Bann ziehen und destabilisieren zu lassen gelingt eigentlich nur noch mit einem festgefügten Selbstvertrauen.

STANDARD: Wie definieren Sie die Eigenschaft Selbstvertrauen?

Scheitler: Selbstvertrauen ist der innere Gegenspieler zu Kleinmütigkeit und Verzagtheit. Selbstvertrauen ist das Kraft und Ruhe gebende Bewusstsein, Anforderungen, Widersprüchen und Verwerfungen im Leben nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Wer aus Selbstvertrauen heraus lebt, vertraut auf die eigenen Fähigkeiten und Stärken, lässt sich sein Lebensgefühl nicht vom Äußeren diktieren. Aus dieser Einstellung zu sich selbst heraus baut sich eine grundlegende Überzeugung von persönlicher Bewältigungsfähigkeit auf. Aus der heraus erwächst der Wille, mit den Aufgaben, die die Zeit stellt oder die eigenen Wünschen entspringen, umzugehen, sowie auch das Vermögen, Chancen und Möglichkeiten zu erkennen und auch zu ergreifen.

STANDARD: Selbstvertrauen als Basis für eine unerschrockene Lebensbewältigung?

Scheitler: Eindeutiges Ja! Gebricht es an Selbstvertrauen, dann wird jeder Schritt und Tag zur Last, und es fällt zunehmend schwerer, zuversichtlich in den Tag hineinzugehen. Das unterstreicht mein Erleben in der geschützten Atmosphäre von Vier-Augen-Gesprächen: Fehlt es an Selbstvertrauen, gewinnen Ohnmachtsgefühle bis zu Resignation die Herrschaft, obwohl von der persönlichen Qualifikation her gesehen zu diesen Gefühlen nicht im geringsten Anlass besteht. Das ist im Übrigen auch eine Beobachtung, die auch feinfühlige Chefs im Umgang mit ihren Mitarbeitern machen. Zeigt sich doch im weniger oberflächlichen Hinsehen gar nicht einmal so selten, vermeintliche Versager sind eher aus sich selbst heraus verzagt als tatsächlich leistungsschwach.

STANDARD: Welche Bedeutung hat Selbstvertrauen für die Beziehungsfähigkeit?

Scheitler: Eine geradezu enorme. Selbstvertrauen ist die vielfach verkannte Basis dafür, tragfähige Beziehungen zu anderen aufbauen, gestalten und erhalten zu können. Mit Menschen ohne Selbstvertrauen zusammenzuarbeiten, das ist eine ständig vom Absturz bedrohte Gratwanderung. Geht doch schwach ausgeprägtes Selbstvertrauen meist mit einem stark ausgeprägten Misstrauen einher! Wer in sich unsicher ist, fasst jedes Wort, jede Geste falsch auf, empfindet die andere Sichtweise als Zurücksetzung der eigenen Person, interpretiert sie als Besserwisserei oder Kritik, jedes Nein als persönliche Verletzung. Es fehlt die innere Kapazität, um sich verständnisbereit anderen zuzuwenden und sich auf das Gegenüber einzulassen. Erneut schiebt sich die alltägliche Zusammenarbeit in den Blickpunkt: Selbstunsichere Chefs sind, ebenso wie gleichgestrickte Kollegen, aus ihren Fehlinterpretationen heraus eine Geißel für ihre Umgebung.

STANDARD: Hat Selbstvertrauen nicht auch eine Kehrseite, die Selbstverliebtheit?

Scheitler: Und ob!! Bei jeder Gelegenheit immer wieder das Anhimmeln der eigenen Person durchschimmern zu lassen, das ist eine arge Prüfung für andere. Diese Selbstverliebtheit geht oft Hand in Hand mit Selbstüberschätzung. Das nervt nicht nur, das kann auch direkt verletzen. Schließlich tendiert selbstverliebte Selbstüberschätzung dazu, andere geringzuschätzen. Überheblichkeit als abstoßendster Ausdruck beachtlicher Selbstüberschätzung ist enorm frustrierend. Und aus dieser Frustration heraus kann es zu Zusammenstößen kommen, wobei privat wie im Beruf einiges nur schwer reparierbar zu Bruch gehen kann und geht! Ebenso wie selbstunsichere sind selbstverliebte Vorgesetzte eine schlimme Belastung für die Zusammenarbeit.

STANDARD: Wie entwickelt sich Selbstvertrauen in einem Menschen?

Scheitler: Es gibt Glückliche, die lassen sich durch nichts erschüttern, die vertrauen quasi von Natur aus darauf, mit den Anforderungen des Lebens klarzukommen, ohne aus diesem Vertrauen zu sich selbst heraus überheblich zu werden. Andere haben das Glück, in einer ihre sich entwickelnde Persönlichkeit stärkenden Umgebung aufzuwachsen, in der sie Vertrauen zu sich selbst entwickeln, sich selbst ausprobieren und auch korrigieren können. Wem als Kind verdeutlicht wurde, dass Hinfallen und Wiederaufstehen genauso zum Leben dazugehört wie Fehler zu machen, aus denen sich lernen lässt und die keine Katastrophe sind, bekommt ein ganz anderes Gefühl für sich als jemand, der umgehend als Dummkopf hingestellt wird. Was in der Quintessenz heißt, Menschen lassen sich auch zu selbstunsicheren Wesen machen.

STANDARD: Und wer von diesem Glück stiefmütterlich bedacht wurde?

Scheitler: Wenn auch beides hinsichtlich des persönlichen Selbstvertrauens eine gewichtige Rolle spielt, darf nicht der blockierende Schluss daraus gezogen werden, damit seien die Weichen ein für alle Mal gestellt. Selbstvertrauen hat auch ganz viel mit persönlicher Anstrengung zur Persönlichkeitsentwicklung zu tun, es lässt sich auch in kleinen Schritten erarbeiten! Praktisch heißt das, den Blick auf sich selbst zu verändern. Und das wiederum heißt, sich bewusstzumachen und anzuerkennen, dass man durchaus etwas zustande bringt. Interessanterweise wissen das auch viele, sind aber einfach nicht bereit, Lob und Anerkennung, die sie bekommen, als persönliche Stärkung zu empfinden, sondern sie kontern abweisend mit der Bemerkung, das wäre bloß Zufall gewesen und überhaupt, andere seien doch viel besser.

STANDARD: Wie manche die Kunst beherrschen, sich selbst kleinzumachen, ist also schon bemerkenswert?

Scheitler: Und auch traurig! Dabei ist es keineswegs eine unüberwindliche Hürde, sich aus dieser immer wieder selbst herbeigeführten Prophezeiung zu lösen. Sich vor Augen zu führen, wie viel doch schon gelungen ist, wie viele schwierige Situationen schon gemeistert wurden und welch beglückendes Gefühl sich dabei und danach eingestellt hat, das gibt Boden unter den Füßen. Langsam, aber zuverlässig formt sich daraus Selbstvertrauen, und, wie es der kanadische Psychologe Albert Bandura genannt hat, auch eine selbstverständliche Selbstwirksamkeitserwartung. Menschen mit Selbstvertrauen, so Banduras Erkenntnis, die sich etwas zutrauen und entsprechend von sich auch etwas erwarten, sind motivierter, strengen sich mehr an und sind ausdauernder in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten. In der Schlussfolgerung kann das für mich nur heißen: Zutrauen zu sich selbst zu entwickeln ist für die, denen es daran mangelt, aus meiner Sicht die wichtigste Aufgabe, der sich ein Mensch gerade unter der heutigen Veränderungsdynamik stellen muss und kann! (Interview: Hartmut Volk, 15.9.2020)