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Dass Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit gleich an Würde und Rechten sein sollten, ist Inhalt von Ethikunterricht an Schulen – und keine übertriebene Wokeness.

Foto: AP / Alvaro Barrientos

Pssst, ich bin's wieder. Der Lobbyist und Pressesprecher von der Vereinigung für "Transgenderpropaganda". Sie wissen schon: diese unglaublich mächtige, mit allen Wassern gewaschene und finanziellen Mitteln ausgestattete weltumspannende Organisation, die vorhat, all Ihre Kinder "frühzusexualisieren" und in regenbogenfurzende, dildoschwingende Einhornmischwesen zu verwandeln. Dieser Verband, der geschlechtsangleichende Operationen für alle verpflichtend machen will, in der Schule nur noch Neomarxismus und Feminismus lehren lässt und die komplette Automobilindustrie abschaffen wird, um die Mobilität der Zukunft mit fahrbaren Unisextoiletten einzuläuten. So ungefähr jedenfalls.

Mehr als ein Geschlecht? Ernsthaft?

Zumindest wollen Leute wie ich Ihnen weismachen, dass nicht etwa die Begeisterung für Röcke und Kleider die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Junge homosexuell ist, sondern die Tatsache, dass er ältere Brüder hat. Oder wir tischen ihnen auf, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und Geschlecht weniger binär, sondern mehr wie ein Kontinuum gedacht werden sollte. Aber Sie wissen ja, was Sie davon zu halten haben. Das wäre ja genauso absurd als würde ich behaupten, Sie würden zum Pinkeln ebenso lange benötigen wie eine Katze oder ein Elefant, oder Ihnen weismachen wollen, dass die Zeit in den Bergen schneller vergeht als im Tal. Ziemlich lächerlich das Ganze. Mit Ausnahme von einer Kleinigkeit: Das stimmt alles. Aufgrund der sich aus der Relativitätstheorie ergebenden gravitativen Zeitdilatation vergeht die Zeit in Gebirgen messbar schneller als im Flachland.

Säugetiere, die über fünf Kilogramm wiegen, brauchen artenübergreifend nach dem Gesetz des Urinierens durchschnittlich 21 Sekunden. Geschlecht wird durch eine Vielzahl von Parametern bestimmt und ist alles andere als binär. Und dass die Wahrscheinlichkeit von Homosexualität mit jedem männlichen Nachkommen steigt, wurde schon in den 1990ern belegt. Mittlerweile weiß man sogar einiges mehr über die biologischen Gründe dafür.

Nur ein bisschen Wokeness?

Ich erzähle Ihnen das nicht, weil ich mich über Sie und Ihren Wissensstand lustig machen will, sondern weil ich Ihnen eine Einladung aussprechen will, wobei ich mir ernsthaft Mühe gebe, nicht ausfällig zu werden und herumzupöbeln. Zumindest nicht mehr als nötig, und deshalb machen wir es kurz: Wenn Sie mit einer Verschwörungstheoretikerin sympathisieren, die die LGBTI-Community als "Kinderschänder" beschimpft und Regenbogenfahnen zerreißt,

gilt Ihnen meine tiefe Verachtung. Aber wenn Sie zu der stetig wachsenden Gruppe von Menschen gehören, die sich fragen, ob ich und andere solche Dinge nicht vielleicht nur deshalb sagen und schreiben, weil wir einem linksgrünen Zeitgeist folgen, uns moralisch überlegen fühlen und anderen unsere Tugendhaftigkeit anzeigen wollen, dann können und sollten wir reden. Denn es ging nie nur um sogenanntes Gutmenschentum oder um das, was der konservative britische Autor Douglas Murray und viele andere abfällig als Wokeness bezeichnen. Also ein im schlechtesten Fall nur aufgesetztes Set an Verhaltens- und Sprachregeln, mit dem man seine Nähe zu und seine Solidarität mit Frauen und Minderheiten klarstellt. Eine Formelsammlung, mit der man sein Aufenthaltsrecht in progressiven Kreisen belegt.

An diesem Vorwurf ist was dran und sich selbst dahingehend immer mal wieder zu überprüfen zweifellos eine gute Idee. Allerdings sollte sich die Gegenseite im Gegenzug auch damit befassen, wie sehr sie dem Mythos aufgesessen ist, sie selbst hätten die Fakten und all die linken Schneeflöckchen bloß ihre Gefühle, Eindrücke und Überzeugungen, für das Richtige zu stehen. Murray selbst rät zu Demut und Zurückhaltung, weil man diese ganzen Sachen mit Frauen und Transgender gar nicht so genau wisse und es innerhalb der einzelnen Gruppen ja auch große Spannungen gebe.

John Anderson

Doch, weiß man. Dass Geschlecht nicht einfach nur binär zu denken ist, ist Stand der Wissenschaft. Dass Menschen gerade aufgrund ihrer Verschiedenheit gleich an Würde und Rechten sein sollten, Inhalt von Ethikunterricht an Schulen. Dies nicht zu wissen, ist schon unerfreulich genug. Mit seiner Ignoranz auch noch zu kokettieren, sein eigenes Nichtwissen dafür zu benutzen, anderen zu unterstellen, sie hätten keine Argumente und Fakten, das ist noch mal ein anderes Kaliber. So viel zu angeratener Demut. Aber klar, Fakten zu Geschlecht und Identität zur Kenntnis zu nehmen, die unserer alltäglichen Wahrnehmung widersprechen, ist nicht einfach. Nur gilt das für ein Phänomen wie Zeitdilatation eben auch. Allerdings fühlt sich kaum jemand bemüßigt, sein geozentrisches Weltbild auszupacken und Einstein und seinen Leuten "gefühlige Physik" vorzuwerfen.

Über die Tragweite von Streiten? Okay

Was Konservative an Fakten über Sexualität, Geschlecht und Identität zu haben glauben, ist mindestens so fragwürdig und kritisierbar wie die Fakten derjenigen, die sie so gerne als faktenlos diskreditieren. Also lassen Sie uns gerne über die Bedeutung und Tragweite von Fakten streiten. Aber hören Sie auf so zu tun, als wären Sie die einzige Stimme der Vernunft und alle anderen hätten vor lauter Emotionen den Verstand verloren. Sonst gehören Sie am Ende zu denen, die "denken erlaubt" in ihre Social-Media-Profile schreiben, zu "Querdenken"-Demonstrationen gehen und dabei gar nicht bemerken, dass sie es sind, die sich längst von Fakten, Daten, Belegen und wissenschaftlicher Falsifizierbarkeit verabschiedet haben. Die Fridays-for-Future-Bewegung hat nicht nur Klimagefühle und Zukunftsangst, die hat hammerharte Fakten und Studien sonder Zahl. Die angeblich angeborene Vorliebe von Mädchen für Rosa und Pink gilt mittlerweile als widerlegt. Und dass das Suizidrisiko von Trans-Männern bei über 50 Prozent liegt, ist traurige Realität.

Trans-Frauen sind Frauen. Ist so

Also hören Sie auf, anderen zu unterstellen, sie würden sich nur an die Seite von Trans-Frauen und -Männer stellen, weil sie sich davon erhoffen, als besonders woke, tugendhaft und politisch korrekt gelten, wenn es Ihnen tatsächlich nur darum geht, die eigene Unwissenheit oder Ignoranz als Freigeistigkeit auszugeben. Trans-Frauen sind Frauen. Trans-Männer sind Männer. Mag sein, dass Sie sich mit dieser Tatsache unwohl fühlen. Aber das ändert nichts daran, dass es ist, wie es ist: Tatsache. (Nils Pickert, 14.9.2020)