Die Corona-Krise stellt die Frage nach Gewinnern und Verlierern in der Einkommens- und Vermögensverteilung wieder ins Zentrum der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte. Auch wenn die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie deren ökonomische und soziale Auswirkungen in den vergangenen Jahren bereits intensiv diskutiert wurden, hat die Corona-Krise die verschiedenen Facetten von Ungleichheiten noch deutlicher zum Vorschein gebracht. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut die große Bedeutung und Notwendigkeit der Verfügbarkeit von verlässlichen Datenquellen. Erst eine ausreichende Datenbasis ermöglicht es, fundierte wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen und deren Wirksamkeit transparent nachzuvollziehen. Bestrebungen, die Qualität und Verfügbarkeit von Daten weiter voranzutreiben, sind deshalb äußerst wichtig und positiv zu bewerten.

Das Problem mit den Daten

Für Verteilungsanalysen werden üblicherweise Befragungs- und Steuerdaten herangezogen. Diese Quellen sind jedoch zumeist mit Datenproblemen verbunden. Befragungsdaten sehen sich typischerweise mit dem Problem von Messfehlern und der Untererfassung von reicheren Individuen konfrontiert. Ein verbesserter Zugang zu administrativen Daten hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass auch verstärkt Steuerdaten zum Einsatz kommen. Jedoch lässt sich auch mit Steuerdaten nicht das gesamte Einkommen von Personen abbilden. Beispielsweise werden Vermögenseinkommen in der Regel direkt an der Quelle besteuert und scheinen daher in den Steuerdaten nicht auf. Als Folge ergeben sich sowohl in den Befragungsdaten als auch bei Steuerdaten Lücken im Vergleich zum Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft, das in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ausgewiesen wird. Auf Basis von beiden Datenquellen wird deshalb tendenziell eine Ungleichheit ausgewiesen, die unter dem Niveau der tatsächlichen Ungleichheit liegen dürfte.

Neue Methoden wurden in den letzten Jahren entwickelt, um dieser Problematik entgegenzuwirken. Beim Ansatz der "Distributional National Accounts" werden Befragungsdaten, Steuerdaten und Daten der VGR zu Einkommen durch statistische Methoden miteinander verknüpft. Dadurch können sowohl Datenprobleme als auch -lücken zu einem guten Teil identifiziert und geschlossen werden. Um eine konsistente Vergleichbarkeit zwischen Ländern zu ermöglichen, wurden unter anderem Richtlinien für die Erstellung solcher Statistiken festgelegt.

Um die Verteilungsunterschiede genauer darstellen zu können, fehlt es an Daten.
Foto: derStandard.at/Maria von Usslar

Verteilung des Nationaleinkommens

Diese Statistik haben wir nun erstmalig für Österreich und die Jahre von 2004 bis 2016 erstellt. Dadurch konnten wir das gesamte Nationaleinkommen auf einzelne Personen herunterbrechen und die Einkommensverteilung aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich bei der Anwendung von Distributional National Accounts die Einkommensungleichheit signifikant erhöht.

Die Ungleichheit auf Basis der ursprünglichen Befragungsdaten wird demnach zu niedrig ausgewiesen. Die Einkommenskonzentration verstärkt sich: Der Anteil der oberen zehn Prozent am gesamten österreichischen Nationaleinkommen erhöht sich aufgrund dieser neuen Erfassung von einem Viertel auf über ein Drittel. Folglich ergibt sich ein anderes Bild der aktuellen Verteilungssituation.

Dynamik in der Einkommensungleichheit

Die umfassende Datengrundlage ermöglichte es uns, sich der Frage zu widmen, inwieweit unterschiedliche Bevölkerungsgruppen vom Wirtschaftswachstum profitieren konnten. In den Jahren vor der Finanzkrise 2007/08 lag das Wachstum der Einkommen bei den oberen zehn Prozent tendenziell über der durchschnittlichen Wachstumsrate. Im Gegensatz dazu zeigten sich in der Nachkrisenperiode für die oberen zehn Prozent negative Wachstumsraten und für den restlichen Bereich der Verteilung stagnierende Einkommen.

Dieses Muster lässt sich auch direkt in der Entwicklung der Einkommensungleichheit wiederfinden. Die Ungleichheit in den Einkommen ist in den Jahren vor der Krise noch gestiegen, jedoch mit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise zurückgegangen. Seit 2012 zeigt sich wieder ein leicht steigender Trend.

Die Ergebnisse lege nahe, dass die Entwicklung der Kapitaleinkommen für die Dynamik in der Einkommensungleichheit eine große Rolle spielt. Bei den oberen zehn Prozent der Verteilung machen Kapitaleinkommen über ein Drittel, beim obersten Prozent sogar mehr als die Hälfte des Gesamteinkommens aus. Für die unteren 90 Prozent spielen Kapitaleinkommen keine wesentliche Rolle. Des Weiteren sind Kapitaleinkommen sehr konjunktursensitiv und beeinflussen deshalb besonders während Krisen die Dynamik in der Einkommensverteilung.

Staatliche Umverteilung

Des Weiteren konnten wir Effekte der staatlichen Umverteilung im Detail erfassen und analysieren. Ein Großteil (das heißt circa 70 Prozent) der österreichischen Bevölkerung profitiert von der staatlichen Umverteilung in Form eines höheren verfügbaren Einkommens im Vergleich zu den Markteinkommen. Dieses Muster zeigt sich überaus stabil über die Zeit. Die einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen profitieren von monetären und insbesondere von nichtmonetären (Sach-)Transfers aus dem Bildungs- und Gesundheitssystem sowie durch den sozialen Wohnbau. Umverteilungseffekte durch das Steuer- und Abgabensystem fallen jedoch vergleichsweise gering aus. Die Umverteilung durch den öffentlichen Sektor erfolgt somit in Österreich vor allem ausgabenseitig über das Transfersystem und weniger einnahmenseitig über das Steuer- und Abgabensystem.

Weiters profitieren von der Umverteilung sowohl Personen mit niedriger Bildung als auch jüngere und ältere Menschen. Demnach zeigt sich auch eine Umverteilung über die Generationen. Während die jüngere und ältere Generation Profiteure der staatlichen Umverteilung sind, zahlen Personen im mittleren Alter mehr in das System ein, als sie unmittelbar herausbekommen.

Beträchtlicher Nutzen von neuen Methoden und neuen Daten

Auch wenn die hier dargestellte Methode der Datenerfassung sowie -auswertung nicht lückenlos ist und bereits mehrfach kritisch diskutiert wurde, steht ihr Mehrwert außer Frage: Der methodische Zugang des Ansatzes zielt klar darauf ab, Datenprobleme zu lösen und Auswertungen über die Einkommensverteilung zu liefern, die näher an der tatsächlichen Verteilung liegen. Bestrebungen, diese Methode weiterzuentwickeln und in offizielle Statistiken aufzunehmen, werden unter anderem von Institutionen wie der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorangetrieben. Für präzisere Auswertungen wäre es vor allem wichtig, Zugang zu neuen und detaillierteren Daten zu erhalten. Beispielsweise würde ein direkter Zugang zu Informationen über Kapitaleinkommen aus Registerdaten die Verlässlichkeit der Ergebnisse weiter erhöhen. Da Kapitaleinkommen in der Regel in Österreich endbesteuert sind und dadurch in den Steuerstatistiken nur in Ausnahmefällen enthalten sind, ist die Erfassung der Verteilung von Kapitaleinkommen deutlich erschwert.

Sicherlich wird es interessant sein, die Auswirkungen der Corona-Krise auf Basis der Distributional National Accounts zu analysieren. Manche schreiben der Krise das Potential zu, als "Great Equalizer" zu fungieren. Jedoch lassen die jüngsten Ergebnisse der empirischen Forschung vermuten, dass die Einkommensschere nicht nur kurzfristig, sondern auch längerfristig in den einzelnen Ländern weiter aufgehen wird. Die stärkere Betroffenheit von Arbeitslosigkeit der unteren Einkommensschichten und die rasante Erholung am Aktienmarkt sprechen derzeit klar für einen Anstieg der Einkommens- und Vermögensungleichheit. (Stefan Jestl, Emanuel List, 15.9.2020)

Stefan Jestl ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Foto: Verena Stifter-Kogler
Emanuel List ist Ökonom am Forschungsinstitut Economics of Inequality (WU Wien) und Doktorand am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf.
Foto: Sonja Spitzer