Als er ihnen in die Augen sah, war es um Alain Schroeder geschehen: "Es war eine enge Verbindung, eine Art Freundschaft", die sich schwer in Worte fassen lässt. Aber Worte braucht Schroeder sowieso nicht zwingend, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: Sein Vehikel ist die Fotografie. Mit seiner eindringlichen Arbeit über bedrohte Orang-Utans auf Sumatra reüssierte er bei den World Press Photos gleich in zwei Kategorien.

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Ein einmonatiges Orang-Utan-Baby, das tot auf einem OP-Abdecktuch eines Rettungsteams liegt: Alain Schroeder wurde für das Foto in der Kategorie "Natur" mit dem Preis für das beste Einzelfoto ausgezeichnet.
Foto: AP/Alain Schroeder

In "Natur" wurde er für das beste Einzelbild und die beste Serie prämiert. Schroeders Fotos sind nur einige von vielen der weltbesten Pressefotos, die seit Freitag in der Galerie Westlicht zu sehen sind: Die World-Press-Photo-Ausstellung gastiert bis 25. Oktober in Wien.

Palmölplantagen statt Orang-Utans

Die Orang-Utan-Fotos, die im Magazin "National Geographic" veröffentlicht wurden, sind das Resultat eines persönlichen Interesses. Beruflich verschlug es den belgischen Fotografen bereits öfter nach Indonesien. Die erste Annäherung im Jahr 2017 war aber privater Natur: "Ich hatte davor noch nie Orang-Utans gesehen, nicht einmal in einem Zoo", sagt der 65-Jährige im Gespräch mit dem STANDARD. Gedacht, getan, und Schroeder machte sich auf in den Dschungel, um eine Tierschutzorganisation zu besuchen, die sich um verletzte und entwurzelte Tiere kümmert. Sie sind Opfer der extensiven Palmölplantagen, die sich über hunderte Kilometer ziehen und den Orang-Utans ihren natürlichen Lebensraum nehmen. Schließlich landete Schroeder auch in einer Klinik, die sich um die Orang-Utans kümmert.

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Ein 30 Jahre alter Orang-Utan wird einem medizinischen Check unterzogen.
Foto: AP/Alain Schroeder

Die preisgekrönten Fotos entstanden allerdings erst rund ein Jahr später. Nach seinem ersten Besuch habe er der Organisationsleitung alle ein, zwei Monate geschrieben, ob er fotografieren kommen dürfe. Es kamen nur Absagen. Schroeder hat sich dann ohne Erlaubnis der Naturschutzorganisation auf den Weg nach Indonesien gemacht, sie aber vor Ort erhalten und dann sechs Monate fotografiert – sowohl im Dschungel als auch in der Klinik. Der Rest ist World-Press-Photo-Geschichte.

Alain Schroeder bei der Arbeit. Der Belgier verbrachte sechs Monate auf Sumatra, um Orang-Utans und ihre Retter zu fotografieren.
Foto: Alain Schroeder

Kinder als Jockeys

Mit seinen Fotos möchte Schroeder einerseits den Fokus auf Katastrophen lenken, etwa wenn er das Flüchtlingselend der Rohingya in Myanmar fotografiert, andererseits dienen sie auch wieder nur der Unterhaltung – ohne politische Botschaft. Beispiele dafür sind Fotos der Kid Jockeys in Indonesien, die Schroeder bereits im Jahr 2018 bei den Word Press Photos den ersten Platz in der Kategorie "Sport Stories" brachten, oder die "Grandma Divers", die er in Südkorea auf der Vulkaninsel Jejudo fotografiert hat. Die Porträtserie von älteren Taucherinnen, viele davon sind über 70 Jahre alt, mit ihren schwarzen Taucheranzügen und verschrumpelten Gesichtern entstand im Jahr 2019 und wurde schon mehrfach ausgezeichnet.

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Mit den Kid Jockeys in Indonesien gewann Schroeder 2018 in der Kategorie "Sports Series".
Foto: AP/Alain Schroeder

Fotopreise, und Schroeder hat sehr viele davon, seien eine schöne Anerkennung und ein wichtiger Motor für weitere Aufträge, aber nicht der alleinige Antrieb für den Job: "Du reichst deine Arbeiten bei den Word Press Photos nicht aufgrund des Geldes ein, sondern wegen des Prestiges", sagt Schroeder. Geld winkt ohnehin nur dem Gewinner für das World Press Photo des Jahres – es sind 10.000 Euro.

Magazinen geht das Geld aus

Für freie Fotografen ist das verdammt viel Geld, denn die goldenen Zeiten der Pressefotografie sind längst vorbei: "Die Magazine haben kein Geld mehr." Er bekomme im Schnitt zweimal pro Woche Anfragen von Medien, die seine Aufnahmen veröffentlichen möchten, nur: "Sie sagen, es tut mir leid, wir haben aber kein Geld. Für ein Fotomagazin sage ich meistens Ja, aber wenn es ein normales Magazin ist, sage ich Nein: Ihr müsst zahlen, ich mache mein Geld damit und kann es nicht verschenken."

Foto-Nomade

Schroeder kann es sich mittlerweile leisten, an Projekten mehrere Monate lang zu arbeiten, auch wenn es nicht honoriert wird, weil Magazine nicht mehr so viel zahlen können: "Wenn du mehrere Wochen an einer Geschichte arbeitest, verlierst du normalerweise Geld." Bei Schroeder ist alles etwas anders. Er lebt aus dem Koffer. Im Jahr 2012 hat er seine Anteile an der belgischen Fotoagentur Reporters verkauft, die er 1989 gegründet hatte. Und sein Haus gleich dazu.

Alain Schroeder lebt aus dem Koffer. Der Foto-Nomade reist für seine Arbeiten um die Welt.
Foto: Inès Koh

Seitdem zieht er als "Nomade", wie er sich selbst bezeichnet, fotografierend durch die Welt. Minimale Kosten, maximale Freiheit. Im Jänner reiste Schroeder durch die Ukraine und Polen, um Kohleminen zu fotografieren. Bis zum Corona-bedingten Lockdown im März war er in Kirgistan. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, im November möchte er wieder hin, sollte es das Virus erlauben.

Von den heuer bei den World Press Photos ausgezeichneten Arbeiten gefallen Schroeder viele, etwa jene beinahe surrealen Aufnahmen von Steve Winter über Tiger im Privatbesitz – Netflix machte daraus ein Spektakel und die Serie "Tiger King" –, aber auch jene des französischen Fotografen Romain Laurendeau, der eindrucksvoll die Unzufriedenheit der Jugend Algeriens mit ihren Lebensbedingungen dokumentierte.

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Tigerschwimmen und -kuscheln in den USA.
Foto: AP/Steve Winter

Die Augen nicht vor der Realität verschließen

Dass viele der ausgezeichneten Fotos einen politischen Hintergrund haben, sei klar: "Es geht schließlich um Fotojournalismus – mit Betonung auf Journalismus." Dass es immer wieder kritische Stimmen gibt, die der World-Press-Photo-Jury vorwerfen, den Tätern eine zu große Bühne zu bieten, indem der Fokus auf ihnen und den Opfern ihrer Gewalttaten liegt, kann Schroeder nicht nachvollziehen: "Du musst der Welt zeigen, was vor sich geht." Es sei auch richtig gewesen, das Foto von Alan Kurdi zu zeigen. Viele Medien hätten das nicht gemacht, bedauert Schroeder: "Schau dir das an, das ist die Realität." Die Leiche des dreijährigen syrischen Buben wurde im September 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt und war Sinnbild des Grauens mitten in der Flüchtlingskrise. Nachhaltig war es nicht, wie man gerade merkt.

Bilder, die Geschichte schreiben und beeinflussen

Am Sonntag war Schroeder noch in Amsterdam, um dort die World-Press-Photo-Ausstellung zu sehen sowie viele ikonografische Bilder, die Geschichte geschrieben haben. Zu sehen sind nämlich alle Siegerfotos seit der Gründung des Awards im Jahr 1955. "Du siehst das nackte Napalm-Mädchen aus dem Vietnam-Krieg im Jahr 1972, das davonrennt." Oder den "Tank Man", der sich 1989 am Tianmen-Platz während des Massakers den Panzern entgegenstellt. Schroeder erzählt auch von einem Foto, das 1994 im Zuge des grausamen Mordens in Ruanda entstanden ist und das ihm in Erinnerung bleiben wird: Ein Mann wirft eine Leiche auf einen Truck, wo sich bereits tote Körper stapeln. "Siehst du das, verstehst du alles", sagt Schroeder: "Du musst das auf die Titelseite einer Zeitung geben und erklären, was hier passiert."

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Ein Foto, das immer noch um die Welt geht: Die neunjährige Phan Thị Kim Phúc erlitt bei einem Napalm-Angriff südvietnamesischer Flugzeuge am 8. Juni 1972 schwere Verbrennungen.
Foto: AP/Nick Uth

Mitten in der Katastrophe

Bilder, die Schroeder auch nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird, sind Szenen, die sich am 29. Mai 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion abgespielt haben. Der Massenpanik, die sich vor dem Fußball-Europapokalspiel der Landesmeister zwischen Liverpool und Juventus Turin ereignet hatte, fielen 39 Fußballfans zum Opfer. Schroeder war als Fotograf vor Ort: "Ich habe mich entschieden, alles zu fotografieren. Das war wie im Krieg, und es gab Kollegen, die gegangen sind." Das müsse jeder selbst entscheiden, so Schroeder: "Ich beurteile nicht und verurteile nicht." Heute sei er sehr froh, dass er die Fotos gemacht habe: "Sie sind Teil der Geschichte, und wichtig ist nicht, wer sie gemacht hat, sondern dass sie existieren." (Oliver Mark, 11.9.2020)