Auch per Boot bekennen die Anhänger des aktuellen Präsidenten Trump Farbe. Auf einer Bootsparade am Susquehanna in Pennsylvania fordern sie: "No more Bullshit."

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Sie werden nicht länger unbeachtet bleiben, die "vergessenen Männer und Frauen". Das war eines der großen Wahlversprechen, mit denen Donald Trump bei den US-Wahlen 2016 überraschend den Sieg gegen Hillary Clinton holte. Vier Jahre später steht fest: Der Präsident hat Wort gehalten – wenn auch anders als erwartet.

Zwar ist der wirtschaftliche Aufschwung im Rust Belt ("Rostgürtel"), der ältesten und größten Industrieregion der USA, Heimat der vielbeschworenen "forgotten men and women", ausgeblieben. Im Fokus des Interesses steht das Gebiet dennoch. Wenige Wochen vor den Wahlen am 3. November entsenden nahezu alle US- und etliche internationale Medien ihre Reporter in diesen Teil Amerikas.

Ihr Ziel sind jene heruntergewirtschafteten Industriestädtchen, die Arbeitermetropolen wie Detroit, Cleveland oder Pittsburgh umringen, einstige Bollwerke der Demokraten, die vor vier Jahren zum Zentrum der Trump-Anhänger wurden. Der Rechercheauftrag: Wie denken die Wechselwähler von damals heute über Trump? Wenden sie sich nun ab, verschreckt von den grotesken Auftritten, mangelhaften Corona-Maßnahmen, der ausbleibenden Revitalisierung ihrer Region?

Die Antworten fallen überraschend aus. Im Wall Street Journal beklagt ein gewisser Larry Milunic, einst Gewerkschafter aus dem Westen Pennsylvanias, das Leid der "Working Poor", die zwar Arbeit haben, davon aber kaum leben können. Er fühlt sich von den Demokraten verraten – und stimmt deshalb erneut für Trump. Genau wie David Ruminski, ein pensionierter Arbeiter, der einst Barack Obama wählte. Nun preist er im Philadelphia Inquirer Trump dafür, den Modernisierungsverlierern ihren Glauben an die Zukunft zurückgegeben zu haben. Das Bild, das sich verfestigt: Kaum jemand im Rust Belt bedauert es, 2016 Trump die Stimme gegeben zu haben. Fast alle wollen "four more years".

Irgendetwas stimmt hier nicht

Zu den Umfragen passen solche Berichte nicht. Sie sehen den demokratischen Herausforderer Joe Biden als klaren Favoriten in den drei Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin. Zwischen fünf und 7,5 Prozentpunkte Vorsprung hat der ehemalige Vizepräsident von Barack Obama (2009–2017) im Mittel der Umfragen hier. Erobert er die 2016 republikanisch umgefärbten Staaten wirklich zurück, ist er auch beim Kampf um die Wahlmänner und -frauen kaum zu schlagen.

Doch allzu sicher kann sich Biden nicht fühlen. Dazu ist die Diskrepanz zwischen Wählerstimmung und Umfragewerten zu hoch. Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder erleben wir am 3. November eine Wahl, die noch absurder ausfällt als angenommen. Oder die Umfragen werden ähnlich falsch interpretiert wie 2016, als ein Sieg Hillary Clintons eigentlich als ausgemacht galt. Auch eine kürzlich veröffentlichte Umfrage aus Florida, dem Swing-State im Süden der USA, bereitet den Demokraten Sorge. Laut dem renommierten Marist College liegt Biden hier plötzlich nur noch einen Prozentpunkt voran.

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In Rio Rancho, New Mexico, stellen sich Latinos und Latinas hinter Trump.
Foto: Reuters/Tom Brenner

Besonders alarmierend: Er verliert eine Wählergruppe, die eigentlich als längst gewonnen galt. Satte 50 Prozent der Latinos und Latinas aus dem Sunshine State wollen diesmal für Trump stimmen – jenen Mann also, der 2016 Mexikaner als eine Horde von Mördern und Vergewaltigern verunglimpft hat.

Florida: Ewiger Sonderfall

Eine letztgültige Erklärung für diesen Meinungsumschwung der lateinamerikanischen Community in Florida gibt es nicht. Aber Thesen, die einen Ansatz liefern. Zum einen wäre da Florida selbst: ein Sonderfall. Der Großteil der hier lebenden Latinos haben ihre Wurzeln in Kuba oder Venezuela, häufiger als in anderen Teilen Amerikas. Sie sind einst vor autoritären linken Führern geflohen und daher politisch tendenziell eher den rechten Republikanern zugewandt. Ihre Abkehr 2016 lag vor allem an Trumps Aussagen. Da er diese in den letzten vier Jahren nicht weiter strapazierte, scheint er nun wieder wählbar. Zumal Donald Trump nach wie vor das Image des erfolgreichen Geschäftsmanns pflegt – was auf die Community, die sich vom Leben in den USA den wirtschaftlichen Aufstieg erhofft, nach wie vor beeindruckend wirkt.

Ein anderes Puzzlestück bietet Rudy Peña. 2018 hat der Bauarbeiter aus Phoenix der BBC erklärt, was er an Trump mag: Der sage schnörkellos, was Sache sei – und verstehe etwas von Wirtschaft. Den Demokraten misstraut Peña. Er fühlt sich von der Partei, die so oft als Anwalt der Hispanics agiere, bevormundet. Nicht jeder, der Kritik an Zuwanderung äußere, sei ein Rassist, findet Peña. Das meint auch Marta Garcia aus New Mexico in einer Reportage der New York Times. Ihre Familie sei seit Generationen da, halte sich an alle Gesetze. Wenn andere nun illegal die Grenze überquerten, solle man ihnen das nicht einfach nachsehen.

Umkehrung der Loyalitäten

Das Gefühl der Bevormundung ist es vielleicht auch, das die größte Überraschung des Wahlkampfs erklärt: Monatelang schon dauern die Proteste gegen strukturellen Rassismus in den USA, Donald Trump tritt ihnen mit Law and Order und Kommentaren am Rand des Rassismus entgegen. Nun zeigen Umfragen: Mehr Afroamerikaner als 2016 wollen für den Republikaner stimmen. Für Biden, der im Mai noch paternalistisch erklärt hatte, wenn ein Afroamerikaner nicht für ihn stimme, sei er "nicht wirklich schwarz" ein herber Schlag. Erstaunlich: Bei weißen Wechselwählern scheint Trumps Kurs kaum zu verfangen, wie der Sender CBS erhob. 48 Prozent sagen in Wisconsin, dem Schauplatz der jüngsten Proteste, Joe Biden gebe ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Nur 43 Prozent finden das über Trump.

Kandidat Joe Biden spricht über Leinwand zu seinen Anhängern. Die versammeln sich in einem Autokino in Houston, und die National Convention der Demokraten zu verfolgen.
Foto: AFP/Go Nakamura

Überhaupt: Bidens Koalition trägt so gar nicht das Gesicht, das man landläufig bei den Demokraten erwarten würde. Ziemlich weiß ist es – und deutlich gealtert. Vier Prozentpunkte liegt der Kandidat laut dem CNN-Analytiker Harry Enten unter weißen Wählerinnen und Wählern zurück. Das klingt nicht gut, ist aber in Wahrheit Folge einer Aufholjagd: Hillary Clinton hatte 2016 noch 13 Punkte Rückstand.

Auch unter Seniorinnen und Senioren ist der 77-jährige Biden im Vorteil. Sie zeigen sich besonders oft vom Charakter Trumps enttäuscht. "Er wirft mit Sprüchen um sich, die definitiv Lügen sind", sagt etwa der 77-jährige Marty Stango aus Florida, der für den Radiosender NPR an einer Fokusgruppe teilnimmt. "Seine Moral ist nicht meine Moral", meint bei gleicher Gelegenheit die 82-jährige Pensionistin Doris Harrington, die wie Stango bisher für die Republikaner votiert hatte.

Demokraten für Trump, Republikaner für Biden also? Ganz so weit wird es nicht kommen. Doch die Spuren einer völligen Neuvermessung der politischen US-Landschaft sind gelegt. Das könnte am Wahltag zu einer Sensation führen: Um Texas, Paradestaat der Republikaner, steht 2020 ein Kampf bevor. Umfragen sehen dort einen Gleichstand, für November lassen sie ein enges Rennen erwarten. Wenn sie denn stimmen. (Manuel Escher, 12.9.2020)