Die Grünen verraten in der Regierung die eigenen Ideale: Aus strikt moralischer Perspektive drängt sich jenes Urteil auf, das der selbsterklärten Menschenrechtspartei nun in sozialen Medien um die Ohren fliegt. Brände haben das griechische Flüchtlingslager Moria zerstört und die davor schon schlimme Lage tausender Bewohner ins Katastrophale gesteigert. Doch trotz grüner Regierungsbeteiligung nimmt Österreich nach derzeitigem Stand keinen einzigen Menschen auf.

Sicher, von Vizekanzler Werner Kogler abwärts drängen Grüne auf die Aufnahme von Frauen und Kindern, inklusive Kritik an den ungustiösen Aussagen der zuständigen türkisen Minister. Doch dies läuft auf eine folgenlose Pose hinaus, wenn die Politik de facto so bleibt, als säße noch die FPÖ in der Koalition.

Haben die Grünen ihre Berechtigung, in der Regierung zu sitzen, also verwirkt? Ein reflexartiges Ja auf diese Frage blendet die realpolitischen Möglichkeiten aus. Klubchefin Sigi Maurer kann sich noch so "kampfbereit" geben, ihrer Partei fehlen schlicht die Waffen. Für Kanzler Sebastian Kurz ist das Nein zu mehr Flüchtlingen unumstößlicher Markenkern, die Grünen haben sich bei den Koalitionsverhandlungen gefügt und der ÖVP alle Schalthebel überlassen. Letztlich kann der Juniorpartner nur mit Koalitionsbruch drohen.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP).
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Da gilt aber jenes Argument, das Kogler bereits vor Regierungsantritt bemüht hat: Wer aus Grundsatztreue auf die Macht verzichtet, muss die Alternativen bedenken, und die sind aus grüner Sicht alles andere als verlockend. Bei einem fliegenden Wechsel ist die einzige realistische Mehrheit im Parlament Türkis-Blau. Im Fall von Neuwahlen werden die Wähler eine Partei, die wegen der Flüchtlinge inmitten der Corona-Krise die Regierung crasht, nicht gerade mit Sympathien überhäufen.

Ambitionierte Umweltpolitik

In der Asylfrage mag es keinen Unterschied machen, ob Grün mit am Ruder sitzt, doch das muss nicht bei allen Themen so sein. Eine ambitionierte Umweltpolitik etwa wäre unter ÖVP und FPÖ nicht zu erwarten. Dass die Grünen auch da kaum Nennenswertes erreicht hätten, ist ein ungerechter Vorwurf: Die Krisenbewältigung hat alles andere vertagt. Eine faire Bilanz ist erst lange nach Ende der Pandemie möglich.

Ob die Grünen bis dahin wegen der Nullnummer in der Flüchtlingspolitik nicht alle Glaubwürdigkeit verspielt haben? Der Ärger der Funktionäre lässt sich nicht eins zu eins auf die breite Masse der Anhänger, die Grün in erster Linie aus Umweltbewusstsein gewählt hat, umlegen. Eine humanitäre Grundhaltung schließt nicht aus, dass viele auch die Schwierigkeiten bei der Integration sehen. So scheuen sich selbst Grün-affine Eltern, ihre Kinder in die nächstbeste Wiener Volksschule mit einem Migrantenanteil jenseits der 75 Prozent zu schicken – weil es begründete Zweifel gibt, ob die Schulen im aktuellen Zustand der Herausforderung Herr werden. Da kann sich auch klammheimliche Erleichterung breitmachen, dass die Regierung bei der Zuwanderung auf die Bremse steigt.

Überrascht können davon ohnehin nur jene sein, die das Absehbare ignoriert haben. Schon lange vor der türkis-grünen Geburtsstunde hat Kanzler Kurz klargestellt, dass er seine Flüchtlingspolitik um keinen Millimeter korrigiert. Die Grünen wussten, worauf sie sich einlassen – und Parteichef Kogler hat nichts anderes versprochen. (Gerald John, 11.9.2020)