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In "Am Ende aller Zeiten", dem bislang einzigen ins Deutsche übersetzten Roman Adrian J. Walkers, kämpft sich Familienvater Edgar durchs meteoritenverwüstete Großbritannien, um Frau und Kinder wiederzufinden. Darauf folgten unter anderem "The End of the World Survivors Club", das die Geschichte von Edgars Frau erzählt, und nicht zu vergessen "The Last Dog on Earth" – der Mann hat einen unverkennbaren Hang zum Apokalyptischen. Doch sind die Weltuntergänge bei Walker stets nur Vehikel, um das Menschliche hervorzuheben. In seinem wunderbaren neuen Roman "The Human Son" mehr denn je.

Die Welt nach uns

Im 26. Jahrhundert zerreißt ein Babyschrei die Stille wie ein lautstarker Protest, in diese Welt geboren zu werden. Es ist der erste neue Mensch seit 500 Jahren, gezüchtet aus der DNA derer, die längst ausgestorben sind. – An dieser Stelle ist gleich ein Rückblick fällig: In den 2070er Jahren stand die Welt am Abgrund. Die Menschheit war von über neun bereits auf unter zwei Milliarden geschrumpft, doch auch für die konnte es auf der vollkommen ruinierten Erde keine Zukunft geben. Also wurde ihre Sterilisierung beschlossen – ein sanftes Aussterben, verbunden mit dem Versprechen, die Menschheit wiederzuerwecken, sobald sich der Planet erholt hat. Das Baby, das den Namen Reed bekommen wird, ist die erste Einlösung dieses Versprechens.

Diejenigen, die den Prozess abgewickelt haben, sind die Erta: künstlich erschaffene Übermenschen mit überlegenen geistigen und körperlichen Kräften. Emotionen, Instinkte und die fatale Neigung des Menschen zu kurzfristigem Denken wurden bei ihnen ausgespart – also all die Dinge, die die Welt in die Scheiße geritten haben. Und die Erta können stolz auf ihre Arbeit sein: 500 Jahre später ist die Erde repariert, blüht vor Leben und hat einen zweiten Mond am Himmel, der aus all dem eingesammelten und ins All geschossenen Plastik besteht. Als letzten Akt machen sich die 11.111 Erta daran, ihre eigenen Spuren zu tilgen, und bereiten sich auf ihre Transzendierung vor. Und dann kommt Reed.

... Mama sein dagegen sehr

Just die Atmosphärenchemie-Spezialistin Ima, die Ich-Erzählerin des Romans, übernimmt die Mutterrolle für Reed. Die ist eine ausgesprochene Einzelgängerin und selbst für Erta-Verhältnisse spröde – und dennoch davon überzeugt, dass die Aufgabe für sie kein Problem sein wird: "I fixed the sky, sister. I am sure I can raise an ape." Dass es mit ihrer Einschätzung nicht so weit her sein dürfte, zeigt allerdings bereits der Umstand, dass sie glaubt, mit der eigentlichen Geburt sei das Schlimmste bereits überstanden ...

Ima ist analytisch im Denken und akademisch in der Ausdrucksweise, mehr als einmal habe ich ein weibliches Pendant zu Sheldon Cooper vor mir gesehen. Mutterschaft betrachtet sie als wissenschaftliches Projekt und das Baby samt dessen Fürsorgebedarf bloß als eine weitere Gleichung, die es zu lösen gilt. Doch Walker, der selbst Vater ist, macht sich ein großes Vergnügen daraus, das Baby Reed ständig neue Variablen in die Gleichung einbringen zu lassen.

Durchwachte Nächte sind nur der Anfang, schon bald ist Ima heillos überfordert – etwa wenn es ans Fläschchengeben geht: But as I reached for the bottle, you soiled yourself. I determined this not just from the noise your anus made – astounding as it was in both length and amplitude – but in the instant, wretched smell that hit my nostrils. Die Definition eines Kopfmenschen unvorbereitet in die Elternrolle zu stürzen, sorgt natürlich wie von selbst für Komik – selbst vor der einen oder anderen Slapstickeinlage (etwa Ausrutschen in Babykotze) schreckt Walker nicht zurück.

Philosophische Aspekte

Doch Reed wird älter und beginnt Fragen zu stellen, womit die Geschichte fließend ins Ernste übergeht. Immer wieder macht Ima, die immer stärkere Muttergefühle entwickelt, kleine Wahrnehmungen, dass bei den Erta irgendetwas im Gange ist, von dem sie nichts weiß. Und sie beginnt das Projekt zu hinterfragen. Lautet der Plan wirklich noch immer, nach dem "Testfall" Reed eine neue Menschheit auszuwildern? Oder ist das Experiment eine bloße Geste und war von Anfang an zum Scheitern vorgesehen?

"The Human Son" hat einige Parallelen zu James Tiptree Jr.s Erzählung "Houston, Houston, bitte kommen!". In der wurde ebenfalls ein Relikt aus der Vergangenheit rekonstruiert , um anhand eines Individuums eine ganze Kategorie zu beurteilen (in dem Fall waren es allerdings nicht Menschen insgesamt, sondern nur Männer). Offensichtlich wirft der Roman die Frage auf, ob der Mensch ein Schädling ist und die Erde ohne ihn besser dran wäre. Er beantwortet sie aber nicht unbedingt auf dieselbe Art, wie es das Voluntary Human Extinction Movement (ja, das gibt's wirklich!) und so mancher Standard-Poster unter einem Umweltartikel tun würden.

Es ist kein Zufall, dass Walker hier auch eine uralte theologisch-philosophische Debatte aufgreift, nämlich die zur Trennung von Körper und Geist. Mit den Sundra lebt eine Splittergruppe der Erta in den Wäldern, die das Leben an sich zu genießen versteht – ganz so wie einst die Menschen. Der Gnosis-geprägte Mainstream der Erta hingegen wendet sich von der materiellen Welt ab und ist nur noch an der Vergeistigung interessiert. "I hate this. Hate it. This dirt, this skin, these bones, these innards. I want them gone, I want to be free of them!", bricht es einmal aus Imas Schwester Haralia heraus. – Diese zwei Themen gehen Hand in Hand: Den Geist vom Körper losgelöst zu betrachten, könnte demselben Denkfehler entspringen, wie den Menschen aus der Umwelt herauszurechnen.

Auf dem Weg zur Menschlichkeit

Apropos Haralias Gefühlsausbruch: Schnell gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass die Erta nicht die puren beings of peace and reason sind, als die sie uns vorgestellt wurden. Ob sie nun im Rat über die Zukunft streiten oder Ima von ihren Nachbarn fast gelyncht wird, weil auch sie wegen des Babygeschreis nicht mehr schlafen können: Ausgeburten der reinen Vernunft stellt man sich anders vor. Anfangs hielt ich das noch für eine erzählerische Schwäche Walkers, doch es gibt einen Grund dafür, wie wir noch sehen werden.

Und ohne diesen vermeintlichen Widerspruch wäre auch Imas charakterliche Entwicklung nicht möglich, und der Roman würde sein wichtigstes Wesensmerkmal verlieren. Denn "The Human Son" ist die Geschichte nicht einer, sondern zweier Menschwerdungen. Reed könnte es ohne Ima nicht schaffen – und umgekehrt ist es ganz genauso. Schöner als die Anfangsworte des Romans könnte man es nicht sagen: You and I were born with a purpose. Mine was to save the world. Yours was to remind us why it needed saving in the first place.