Für Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) ist es eine gegebene Sache: Würde Österreich aus Lesbos einige Flüchtlinge aufnehmen, die nach der Zerstörung des dortigen Lagers Moria durch eine Serie von Bränden auf den Straßen, in den Feldern und an den Stränden campieren, so würde dies einen Pull-Effekt nach sich ziehen: Weitere Flüchtlinge würden sich aus der Türkei auf den Weg machen, von der Hoffnung beseelt, es wie die nach Österreich gebrachten Menschen vielleicht doch von einer griechischen Insel in ein anderes EU-Land zu schaffen.

"Wir müssen jetzt versuchen, nicht Signale auszusenden, die zu einer Kettenreaktion führen, derer wir nicht mehr Herr werden", sagte Schallenberg am Mittwoch im Interview mit Armin Wolf in der ZiB 2. Österreich werde anders als durch Übersiedlungsaktionen helfen – etwa Decken, Zelte und Container für die Hilfe vor Ort schicken.

Essensverteilung in einem griechischen Insellager. Wer Asylsuchenden helfen will, droht von ihnen überrannt zu werden, meinen etliche Politiker in der EU. Flüchtlingshelfer und das UNHCR widersprechen.
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Theorie aus den 1960ern

Da stand sie erneut im Raum, die Theorie von der großen Anziehungskraft Europas, die flucht- und einwanderungsbereite Menschen dazu bewege, auch die kleinste Chance zu nutzen, um in die EU zu gelangen – und dort in die mittel- und nordeuropäischen Staaten weiterzureisen. Die Vorstellung, dass Wanderungsphänomene nach dem Prinzip des Push (Wegdrücken) und Pull (Anziehen) funktionieren, stammt dabei aus der ökonomisch motivierten Migrationstheorie des US-Amerikaners Everett S. Lee aus den 1960er-Jahren.

Seit längerem verwendet man sie aber auch, um die Dynamik von Fluchtbewegungen zu umschreiben. Das stößt auf Kritik. Der Komplexität von Auswanderungs- und Fluchtentscheidungen werde das Modell keineswegs gerecht, sagt etwa Herbert Langthaler von der österreichischen Asylkoordination.

Auf die aktuelle Situation auf Lesbos bezogen, wo laut einem internen UNHCR-Bericht vom Freitag 11.500 Asylsuchende, darunter 2.200 Frauen und 4000 Kinder, ohne ein Dach über dem Kopf ausharren, hat die Message von der notwendigen Vermeidung eines Pull-Effekts moralisch fragwürdige Konsequenzen. Wer Gutes tun wolle und wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande bereit sei, Menschen aus Lesbos aufzunehmen, riskiere damit über kurz oder lang, überrannt zu werden, besagt sie.

Also lasse man besser die Finger von Umsiedlungsangeboten. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine türkise oder türkisnahe Minister- und Ministerinnenriege vertreten sie mit Vehemenz.

Interne EU-Quellen

Kurz und seine Leute können sich dabei auf eine Reihe EU-interner und einzelstaatlicher offizieller Quellen stützen, die einen direkten Zusammenhang zwischen den Hilfsangeboten an Flüchtlinge und der Zahl Ankommender zu belegen scheinen. Bei den aktuellen Plänen für eine Reform des EU-Migrations- und -Asylregimes spielen sie eine wichtige Rolle.

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Laut Papern des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (Easo) sowie sicherheitspolitischen Unterlagen aus dem Umfeld der EU-Kommission sind etwa die Todeszahlen auf der Fluchtroute über das zentrale Mittelmeer von Libyen oder Tunesien nach Italien massiv gesunken, seit es dort keine offiziellen Rettungsmissionen mehr gibt. Kein Mensch steige mehr in Libyen in ein Schlauchboot, meint ein mit diesen Berichten beschäftigter Experte. Stattdessen kämen nun an den italienischen Gestaden seetüchtige Holzboote aus Tunesien an.

Asylkoordinationsexperte Langthaler meldet hier Zweifel an. Mangels Rettungsmission habe derzeit niemand im zentralen Mittelmeer den Überblick, schon gar nicht über die Zahl Ertrunkener: "Die einzige Stelle, die diesbezüglich seriös recherchiert, ist die Internationale Organisation für Migration", sagt er.

Griechische Polizeiberichte wiederum lassen vermuten, dass die Zahl der aus der Türkei auf den Inseln ankommenden Menschen um einiges größer ist als die Zahl der dortigen Lagerbewohner. Im Gegensatz zu den offiziellen Ansagen der vergangenen Tage, laut denen kein einziger ehemaliger Moria-Bewohner eine Chance habe, von Lesbos aufs griechische Festland übersiedelt zu werden, praktizierten die Behörden genau das. Das Wissen darüber spreche sich bis in die Türkei durch, weitere Flüchtlinge kämen nach. Das sei ein eindeutiger Pull-Effekt.

"Ideologische Scheuklappen"

Christoph Pinter, Leiter des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Österreich, weist das zurück. Der Pull-Effekt sei "ein schwieriges Thema, das wissenschaftlich noch nicht richtig erforscht worden ist", sagt er. Was die Motive für Fluchtbewegungen angehe, räumten UNHCR-Experten den Push-Faktoren eine weit wichtigere Rolle ein – "den Umständen, die dazu führen, dass Menschen ihre Heimat verlassen". Ideologische Hintergründe der Pull-Effekt-Diskussion wiederum erblickt der deutsche Europaminister Michael Roth (SPD). "Ich kann nur an alle appellieren, ideologische Scheuklappen endlich abzulegen", sagte er in Richtung Österreich. (Irene Brickner, 11.9.2020)