Omar Khir Alanam ist aus Syrien geflohen. Im Gastkommentar schreibt der Buchautor über seine Flucht, aber auch über die Integrationsdebatte in Österreich. Es werde viel über Integration gesprochen und diese verlangt, "aber niemand erklärt, was Integration eigentlich bedeutet".

Der Junge sitzt. In seinem halb zerstörten Zimmer. Am Himmel fliegt das Kriegsflugzeug. Er schaut durch die Wohnung. Er weiß nicht, ob er traurig ist oder lachen soll. Der Staub ist auf allen Möbeln. Das Flugzeug, das den Tod bringt, wurde in Russland hergestellt, wird von einem syrischen Piloten geflogen und wirft eine Bombe ab, die möglicherweise in Europa produziert wurde. Hast du versucht, ein Gedicht zu schreiben, während du mit dem Tod kämpfst? Eine Bombe fällt, eine Gasse wird zerstört.

Nein, ich bin nicht vor dem Krieg geflohen, sondern vor der Gewalt. Denn die Gewalt, die du heute ausübst, verdunkelt dein Morgen. Ich bin nicht vor dem Krieg geflohen, sondern vor der Gewalt, auf der Suche nach einem Leben in Würde. Die Flüchtlinge, die gerade in Moria "leben", hatten das gleiche Ziel, aber wo sie jetzt sind, in Europa, leben sie ein menschenunwürdigeres Leben als je zuvor.

Omar Khir Alanam ist in Syrien aufgewachsen und hat dort BWL studiert. 2014 kam er in Österreich an und schreibt seither über Liebe, Exil, Revolution, Flucht, Ausgrenzung, Heimat, Hoffnung und Identität.
Foto: Richard Griletz

Durch die Bilder aus Moria höre ich den Schrei der Kinder auf meiner Reise vor fünf Jahren wieder, die Rufe der Mutter, die Verzweiflung der schwangeren Frau mitten auf dem Meer. Sie alle machten sich auf den Weg, auf eine lebensgefährliche Reise. Die Schwangere erträgt alle möglichen schrecklichen Situationen, nur um ihrem Kind ein Leben in Würde zu schenken. Alle diese Rufe und Schreie brennen in meinem Herzen. Das Öl, das auf das Feuer gegossen wird, sind die Worte der Politiker.

Verlorene Würde

Es geht nicht um ein paar Kinder, es geht um die Menschlichkeit, die Europa zu Europa macht! Was Europa zu einem Paradies macht, ist die Humanität und die Menschlichkeit. Die Debatte, die gerade in der Politik geführt wird, erschreckt mich. Gleichzeitig bedrückt mich das Gefühl, dass dadurch überhaupt eine heftige Diskussion im Land ausgelöst wird. Denn vergleiche ich die aktuelle Berichterstattung in arabischen Ländern, wird dort Moria nicht einmal erwähnt, von einer Diskussion ganz zu schweigen. Obwohl der Großteil der Menschen in Moria aus arabischen Ländern kommt oder muslimisch ist. In diesen Ländern regieren Menschen, die von Würde und Menschlichkeit nichts halten.

Das Zynische ist, dass Europa seine Werte selbst zerstört, aus Angst, dass seine Werte von Eindringlingen zerstört werden. Also nicht die Fremden ändern Europa, sondern die, die vor den Fremden Angst schüren.

Kennst du mich nicht? Ich bin Flüchtling. Ich bin sehr berühmt. Liest du Zeitungen? Alle paar Tage komme ich in die Zeitung: Ein Flüchtling hat etwas gestohlen. Ein Flüchtling ist in ein Geschäft eingebrochen. Ein Flüchtling ...
Ich bin der, den jeder Politiker kennt. Jeder Politiker kennt meinen Namen. Hast du noch nie einen Politiker sprechen hören? Ich bin in seiner Rede die Einleitung, der Hauptteil und der Schluss.

Mein "Willkommen"

Zurück zu meiner eigenen Flucht vor sechs Jahren: "Wir durchquerten damals ganz Ungarn. Um dann, mitten in der Nacht, wieder einmal aus einem Wagen geworfen zu werden. Wir blickten auf unsere Telefone, auf die Navis, irgendwer schrie plötzlich auf Arabisch: "Usturalia!" – Australien! Australien? Wie konnte das sein? Nach sechs Stunden Autofahrt? Ebenso plötzlich standen bewaffnete Männer in Uniformen vor uns. Wir riefen immer wieder: "An-Namsa? An-Namsa?" "Austria", sagte einer der Polizisten, die von irgendwoher gekommen waren, wir verstanden wieder Australien. Bis wir begriffen, dass unser An-Namsa für Österreich auf Englisch Austria heißt. Und nicht Australia. Niemandem von uns war Österreich oder Austria ein Begriff.

Nach meiner abenteuerlichen Reise von Syrien bis ins Burgenland blieb ich 16 Tage in Tirol. Eine Landschaft wie diese hatte ich nie zuvor gesehen. Nur im Fernsehen, denn auch im arabischen Raum gibt es die Zeichentrickserie Heidi mit dem Ziegenpeter und dem Großvater. Genauso wie oben auf der Alm sah es rund um das Flüchtlingsheim aus, in das ich gebracht wurde. Hoch oben auf dem Berg. Weit und breit sonst nichts. Nur Berge und tief verschneite Wiesen. War ich so gefährlich? Ich fragte mich das immer wieder, denn anders konnte ich mir nicht erklären, dass wir viele Kilometer vom nächsten Dorf "aufbewahrt" wurden. In diesen etwas mehr als zwei Wochen hatte ich das Gefühl, zum zweiten Mal in meinem Leben meinen Namen verloren zu haben. Hier war ich der Flüchtling. Ein unerwünschtes Wesen ohne Identität. Der Fremde, vor dem die Gesellschaft in Angst lebt. Mit den Fingern schrieb ich auf Arabisch in den Schnee: Wer bin ich?

Neue Heimat

Nach den zwei Wochen wurde ich nach Gratkorn gebracht, in ein Flüchtlingsheim. Der Leiter erklärte uns alle Verbote und Regeln. Lächelnd streckte ich ihm die Hand entgegen, ich wollte ihm danken. Er sah mich verächtlich an, steckte seine Hände so, dass alle es sehen mussten, in die Hosentaschen und ging fort.

Das war meine Ankunft in Österreich, so wurde ich "willkommen" geheißen. Ich habe vieles versucht. Ich habe die Sprache gelernt. Schließlich habe ich Menschen getroffen, die mir ganz anders begegnet sind. Dadurch konnte ich eine neue Heimat finden. Andere würden sagen, ich habe mich integriert. Immer wird über Integration gesprochen und diese verlangt. Aber niemand erklärt, was Integration eigentlich bedeutet. Also wann ist jemand "erfolgreich integriert"? Ich frage mich, ob ich in Österreich integriert bin. Ich habe sogar Skifahren gelernt. Mir gefällt, was die Pädagogin und Wortspielerin Marina Zuber einmal formuliert hat: "Integration passiert genau dann, wenn die Nationalität keine Rolle mehr spielt."

Ein Politikum

Wie Integration funktioniert? Oft werden wir, "die Flüchtlinge", als Politikum benützt. Es wird viel über uns gesprochen, aber nie mit uns. Natürlich bin ich kein Experte dafür, und diese Frage kann wahrscheinlich auch nicht verallgemeinert beantwortet werden. Worin ich jedoch Experte bin, ist im Erleben. Also darin, wie es einem Menschen ergeht, der seine geliebte Heimat verlassen muss. Auf der Flucht, weit weg von Familie und Freunden. Und ich weiß, was in so einer Situation am allerwichtigsten ist. Damit man ein Mensch bleiben kann: Vertrauen. (Omar Khir Alanam, 13.9.2020)