Flüchtlingskinder vor dem neuen provisorischen Zeltlager in Kara Tepe.

Foto: EPA/ORESTIS PANAGIOTOU

Wien/Lesbos – Vier Tage nach dem Großbrand, der das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zerstörte, bleibt die Situation auf der Insel angespannt. Laut dem griechischen Staatsradio konnten am Samstagnachmittag die ersten Migranten ein neues, provisorisches Zeltlager beziehen. Doch Tausende stehen weiterhin buchstäblich auf der Straße. Die Bundesregierung startet unterdessen die Soforthilfe.

Im Rahmen eines "Soforthilfepakets" sollen nächste Woche vom Innenministerium 400 Unterkünfte (ausgestattet mit Heizungen, Betten, Decken, etc.) für 2.000 Personen inklusive Hygienepakete und sonstigen Hilfsgütern für die Betroffenen nach Griechenland geschickt werden, hieß es am Samstagabend in einem gemeinsamen schriftlichen Statement von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) gegenüber der APA. Weiters werden ein Arzt und zehn Sanitäter vom Bundesheer für Griechenland zur Verfügung stehen, so der Plan. Geplant ist zudem die Verdopplung des Auslandskatastrophenfonds auf 50 Millionen Euro.

Vierte Nacht im Freien für Tausende

Das Lager Moria war in der Nacht auf Mittwoch bei mehreren zeitgleichen Bränden fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen knapp 3.000 Migranten waren dort mehr als 12.000 untergebracht. Einige sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Bewohner wegen Corona-Infektionen Quarantäne verordnet worden war.

Tausende, darunter Kinder, verbrachten die vierte Nacht in Folge im Freien. Humanitäre und staatliche Organisationen verteilten Wasser und Lebensmittel, wie das griechische Fernsehen (ERT) zeigte. Am Samstagvormittag protestierten Hunderte Migranten gegen ihre verzweifelte Lage. Die Polizei setzte daraufhin laut übereinstimmenden Medienberichten auch Tränengas ein.

Provisorisches Zeltlager

Die griechischen Behörden arbeiteten indes an einem provisorischen Zeltlager. "Alle Menschen müssen dorthin gehen. Nur so werden wir sie richtig versorgen können", erklärte der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos im Athener Nachrichtensender Skai.

Zahlreiche Migranten sagten aber Reportern, sie wollten nicht ins Lager und sähen nun die Chance, ihre Abreise durchzusetzen. "Wir wollen nach Deutschland – nicht ins Lager", sagten viele. Bei spontanen kleinen Demonstrationen riefen Migranten "Freiheit, Freiheit"

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Die Migranten protestieren gegen die Errichtung eines neuen Lagers, sie wollen ihre Abreise aus Lesbos erzwingen.
Foto: Reuters/Konstantinidis

Um einen Marsch der Migranten zum Hafen von Mytilini zu verhindern, setzte die griechische Polizei am Samstag Tränengas ein. Zuvor hatten die Migranten Steine auf Polizisten geworfen, berichtete die Nachrichtenagentur AFP.

Nach wie vor bewegen sich Dutzende Coronainfizierte unter den tausenden Migranten. Mindestens 35 Migranten waren vor dem Großbrand positiv getestet worden. Sie tauchten nach dem Großbrand unter.

Auch am Samstag wurden auf Moria Brände gelegt.
Foto: AFP/Tsortzinis

Zehn europäische Staaten haben sich zur Aufnahme von insgesamt 400 unbegleiteten Minderjährigen bereit erklärt, von ihnen wollen allein Deutschland und Frankreich je 100 bis 150 übernehmen. Zur Gruppe zählen auch Staaten, die bisher eine harte Linie in der Flüchtlingsfrage vertraten wie die Niederlande, Kroatien oder Slowenien.

Kurz will weiterhin keine Flüchtlinge aufnehmen

Bundeskanzler Kurz bleibt trotz des wachsenden Drucks hart in der Frage, ob Kinder aus dem abgebrannten Lager aufgenommen werden sollen. In einem am Samstag in der Früh auf Facebook veröffentlichten Video warnte Kurz vor einer Wiederholung der Ereignisse des Jahres 2015, als die europäische Politik angesichts der "schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest (...) dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat". Schlepper hätten Unsummen verdient, unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken, wiederholte Kurz seine seit fünf Jahren unveränderte Argumentation, von der er offenbar auch unter wachsendem innenpolitischen Druck nicht abrücken möchte. Nun sehe er dieselbe Gefahr mit der Situation in Moria.

"Auf europäischer Ebene werden wir uns für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzen. Was wir nicht brauchen, ist Symbolpolitik", sagte er in Anspielung auf die Initiative von neun EU-Staaten und der Schweiz zur Aufnahme von 400 Kindern. Kurz räumte ein, dass die Bilder aus Moria "niemanden kalt" ließen, verwies aber auch auf andere Gebiete, die nicht so im Scheinwerferlicht stünden. Den Menschen müsse man vor Ort helfen, forderte Kurz und verwies in diesem Zusammenhang auf Gespräche mit den Grünen.

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Für Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sei es 2015 "das Schlimmste" gewesen, dass sich viele Menschen auf den Weg nach Europa gemacht haben, erklärte er in einem Video auf Facebook.
Foto: Reuters/Foeger

Grünen-Chef Werner Kogler stieß sich beim Wahlauftakt der Wiener Grünen vor allem an der Befürchtung, eine Aufnahme von Menschen aus Moria könne eine "Sogwirkung" erzeugen. "Diese Ansicht ist nicht nur falsch, sie ist auch am Rande des Zynismus", kritisierte er im Freud-Park vor der Votivkirche. Er versprach: "Wir werden auf Bundesebene nicht locker lassen." Die Wiener Grünenchefin und Spitzenkandidatin Birgit Hebein versicherte, helfen gehöre in Österreich zur Tradition. Sie zeigte sich verwundert, dass "diese türkise Partei" sich weder von der Bischofskonferenz, von der Caritas noch vom Koalitionspartner überzeugen lasse. "Mir reicht diese Diskussion, wir führen sie nur, weil wir Wiener Wahlkampf haben", zeigte sich Hebein überzeugt. Die ÖVP verzichte für 100 Stimmen, die sie von der FPÖ erhalte, darauf, 100 Leben zu retten. "Wir werden nicht lockerlassen", betonte auch sie.

SPÖ "bestürzt" über "kaltherzige Ablehnung"

"Leben retten ist niemals Symbolpolitik", meinte auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. "Wer nicht hilft, macht sich mitschuldig. An dieser Wahrheit ändern auch Ihre Belehrungen nichts." SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried kündigte an, dass die größte Oppositionspartei im Nationalrat einen Antrag zur Aufnahme von Kindern aus Moria als "humanitäre Notmaßnahme" einbringen werden. Die SPÖ zeigte sich "bestürzt" über "kaltherzige Ablehnung" einer Flüchtlingsaufnahme durch Kurz.

Den Festlegungen des Kanzlers nicht trauen wollen indes die Freiheitlichen. Klubchef Herbert Kickl kündigte an, "den Lackmustest" im Parlament machen und entsprechende Anträge im Nationalrat einbringen zu wollen. "Kanzler Kurz ist nicht ehrlich, er spricht mit gespaltener Zunge", vermutete der Ex-Innenminister Hinterzimmerdeals mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Kritik kam auch von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger: "Kurz schürt Ängste und warnt vor einem zweiten 2015. Er vergleicht Dinge, die nicht vergleichbar sind", schrieb sie ebenfalls auf Twitter. Es würden bereits so viele Länder an einer "echten europäischen Lösung" arbeiten, "aber Kurz bleibt immer noch bei seinem Kurs: Helfe ich 100, muss ich danach gleich wieder die ganze Welt aufnehmen. Das ist Schwachsinn. Und das will niemand."

"In diesem Augenblick, während Österreich über die Worte des Kanzlers zur Moria-Katastrophe diskutiert, eskaliert die Situation auf Lesbos komplett", gibt der humanitäre Berater Marcus Bachmann von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am Samstag in einer Aussendung zu bedenken. Angesichts dessen, dass die Bundesregierung zwar die Aufnahme von Migranten aus dem Lager ablehnt, aber Hilfe vor Ort leisten will, sagte Bachmann: "Hilfe vor Ort ist gut und wichtig. Doch sie wurde schon so oft angekündigt – vor Ort haben unsere Teams bisher nicht viel davon gesehen. Stattdessen wurde die Lage schlimmer und schlimmer, bis das Pulverfass explodiert ist."

Innenkommissarin ruft EU-Staaten zu schneller Hilfe auf

EU-Innen- und Flüchtlingskommissarin Ylva Johansson hat die EU-Staaten zu schneller Hilfe und europäischer Solidarität aufgerufen. Griechenland gehöre zu den Mitgliedstaaten, die in den vergangenen Jahren erheblich mehr Migranten aufgenommen hätten als andere, betonte Johansson. Die Migranten auf Lesbos bräuchten sofort Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung.

In Deutschland haben Länder und Kommunen die Aufnahme von insgesamt mehreren tausend Flüchtlingen aus Moria angeboten. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte am Freitag die Unterbringung von bis zu 150 Minderjährigen aus dem Lager angekündigt.

"Christlich-demokratischer Anspruch"

CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen forderte unterdessen die Aufnahme von 5.000 Menschen aus dem Lager Moria. "5.000 Menschen weniger würden die Lage in Griechenland erheblich entlasten. Es ist unser christlich-demokratischer Anspruch an Politik, dass wir jetzt helfen", sagte Röttgen der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstagsausgabe). "Auf diese humanitäre Notlage müssen wir schnell und angemessen reagieren, und das können wir auch", fügte Röttgen hinzu. Nach Möglichkeit müssten andere europäische Länder bei der Verteilung der 5.000 Migranten helfen.

Die Gefahr einer Sogwirkung wie in der Migrationskrise 2015 sieht Röttgen nicht. "Wir haben inzwischen eine völlig andere Situation: Es gibt einen besseren Schutz der Außengrenzen und Abkommen mit anderen Staaten." Es kämen insgesamt wesentlich weniger Flüchtlinge. "Wenn wir jetzt in einer Ausnahmesituation humanitär agieren, dann müssen wir klarstellen, dass davon kein Signal ausgeht. Auch das können wir", sagte Röttgen. (red, APA, 12.9.2020)