Minsk –Mit massiver Gewalt sind maskierte Uniformierte in Minsk gegen friedlich demonstrierende Kritikerinnen des autoritären weißrussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko vorgegangen. Bei den Protesten am Samstag, an denen sich Tausende Frauen beteiligten, gab es nach Angaben des Menschenrechtszentrums Wesna (Spring 96) mehr als 45 Festnahmen. Auch in anderen Städten gab es Demonstrationen.

Proteste in Minsk
Foto: Itar-Tass/Fedosenko

Eine junge Frau erlitt in Minsk durch Schläge eines Polizisten eine Platzwunde im Gesicht, als sie einem Uniformierten die Strumpfmaske vom Gesicht zog und der Mann mit voller Wucht zuschlug. Der als "letzter Diktator Europas" bezeichnete Lukaschenko hatte die Spitzenposten im Sicherheitsapparat zuletzt neu besetzt und gefordert, härter gegen nicht genehmigte Proteste vorzugehen.

Kundgebung gegen Inhaftierung Kolesnikowas

Die Kundgebungen seiner Gegner werden prinzipiell nicht genehmigt, nur die der Unterstützer, die sich in kleiner Zahl am Samstag im Zentrum an der Siegessäule versammelten. Zur gleichen Zeit kamen die Gegnerinnen Lukaschenkos am Platz der Freiheit zusammen. Die Kundgebung richtete sich vor allem gegen die Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa. "Gebt uns unsere Mascha zurück", skandierten die Frauen.

Vermummte Sicherheitskräfte kesselten die Frauen am Platz der Freiheit ein, packten sie hart an und steckten sie in Gefangenentransporter. Die Frauen waren völlig friedlich, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa vom Ort des Geschehens berichtete. Vielen Frauen gelang es, anschließend den Protestmarsch fortzusetzen. Der Demonstrationszug vereinigte sich später mit weiteren Frauen, bis die Menge auf Tausende anwuchs. Laut Berichten waren es mindestens 5.000.

Bisher hielten sich die Sicherheitskräfte gegenüber Frauen weitgehend zurück und nahmen überwiegend Männer fest. Deshalb beteiligten sich viele Demonstrantinnen an den Aktionen. Die Samstage stehen traditionell im Zeichen der Frauenproteste. Zuletzt gerieten aber auch sie ins Visier der Beamten. Die Polizei hatte zuvor eindringlich vor einer Teilnahme gewarnt.

Tichanowskaja verurteile Polizeigewalt

Zu sehen war auf Videoaufnahmen im Internetportal tut.by auch, wie Frauen einem Beamten eine Kamera wegnahmen, mit der er die Proteste filmte. Sie riefen "Uchodi" – "Hau ab!". Auch eine Journalistin, die für das Fernsehen die Lage kommentierte, wurde während ihrer Arbeit mitgenommen.

Swetlana Tichanowskaja, die sich als rechtmäßige Siegerin der Präsidentenwahl vom 9. August sieht, verurteilte aus ihrem Exil in der EU die Polizeigewalt gegen Frauen. "Ich will Sie warnen, dass jeder, der Verbrechen gegen friedliche Demonstranten und sein Volk begeht, die Verantwortung dafür tragen wird", sagte die 38-Jährige. "Sie haben die Chance, auf die Seite des Volkes zu wechseln und keine verbrecherischen Befehle mehr auszuführen."

Die Demokratiebewegung hat für diesen Sonntag zur fünften Großkundgebung gegen Lukaschenko aufgerufen. Während sich an den Samstagen Tausende an den Protesten beteiligen, sind an Sonntagen Zehntausende bis Hunderttausende unterwegs. Die Sonntagsdemonstration steht diesmal unter dem Motto "Marsch der Helden", der auch der inhaftierten Kolesnikowa gewidmet ist. Der 38-Jährigen wird der Versuch der illegalen Machtergreifung vorgeworfen. Ihre Anwältin hatte das als absurd bezeichnet.

Lukaschenko will "Reaktion" der Armee auf Nato-Übung

Während der Proteste traf sich Lukaschenko mit dem nationalen Sicherheitsrat. Dabei sagte er der Staatsagentur Belta zufolge mit Blick auf die Militärübungen der NATO im Nachbarland Litauen, wenn die Übung beendet sei, solle die belarussischen Armee "angemessen darauf reagieren". Zuletzt waren viele Streitkräfte an die Westgrenze verlegt worden. Zudem hatte Lukaschenko einen Teil der Armee "in höchste Kampfbereitschaft" versetzen lassen.

In dem zwischen Russland und dem EU-Mitglied Polen gelegenen Land kommt es seit der Präsidentenwahl vor mehr als einem Monat täglich zu Protesten. Nach mehr als 26 Jahren an der Macht beansprucht Lukaschenko den Wahlsieg mit mehr als 80 Prozent der Stimmen für sich. Die Opposition hält dagegen Tichanowskaja für die wahre Gewinnerin. Die Wahl steht international als grob gefälscht in der Kritik.

Guterres besorgt

UN-Generalsekretär António Guterres sagte am Freitag in New York laut Mitteilung, die Lage in dem Land besorge ihn sehr. "Insbesondere der anhaltende Einsatz von Gewalt gegen friedliche Demonstranten und die Festnahme von Menschen, die legitime demokratische Rechte ausüben." Auch Berichte über Einschüchterungstaktiken unter anderem gegenüber Medienvertretern besorgten ihn. Der Konflikt könne nur von den Menschen in Belarus mit einem "breit angelegten inklusiven Dialog" gelöst werden, der möglichst sofort starten solle, um Stabilität zu gewährleisten.

Derweil erklärten die EU-Staaten im Menschenrechtsrat, die regierungskritischen Proteste zum Thema in dem Gremium machen und eine Resolution verabschieden zu wollen. "Die andauernde Verschlechterung der Menschenrechtslage in Belarus seit den Präsidentschaftswahlen braucht die dringende Aufmerksamkeit des Menschenrechtsrats", schrieb der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, Michael von Ungern-Sternberg, stellvertretend für die EU-Staaten. Der Diplomat verwies auf UN-Berichte, laut denen in der vergangenen Woche 450 Fälle von Folter und Misshandlungen von Gefangenen gemeldet wurden. (APA, 12.9.2020)