Seit Jahrtausenden ist der Kitsune (狐) – japanisch für Fuchs – für Geschichten über Liebe, Verrat, Magie, Verführung, Weiblichkeit und Sexualität verantwortlich. Füchse dienen im Shintō-Glauben als Boten der Reisgöttin Inari, die den Reisbauern und Warenhändlern Fruchtbarkeit auf Feldern und Handelsstätten schenken kann. Mehr als ein Drittel der Shintō-Schreine in Japan sind Inari gewidmet.

Kami und die Besitzergreifung

Der Shintoismus umfasst das Verehren von Millionen sogenannter Kami (Gottheiten und Geisterwesen). Nicht immer sind diese den Menschen wohlwollend geneigt und treiben oftmals über Generationen hinweg ihr Unwesen in dunklen Wäldern, verlassenen Schreinen und einsamen Gassen. Berichte über Männer, die im nächtlichen Kyōto von einer bildhübschen Dame angesprochen und verführt werden und am nächsten Morgen ihr Gedächtnis verloren haben, sind in den Schriften des alten Japan weit verbreitet.

Ein wiederkehrendes Phänomen sind Tsukimono – Wesen, die sich einen menschlichen Körper zu eigen machen und damit Schabernack treiben. Ist jemand beispielsweise von einem Waschbären besessen, hört die Person nicht auf zu essen, bis deren Bauch so dick ist wie der eines Waschbären. Ergreift ein Pferdegeist Besitz eines Menschen, wird dieser sehr unfreundlich und "schnaubt" andere an.

Foxes Meeting at Oji, Utagawa Hiroshige, 1857
Quelle: www.metmuseum.org/ (Public Domain)

Sogenannte Kitsune-tsukai waren Einheimische, die Fuchsgeister bändigen und ihnen sogar befehlen konnten, einem unliebsamen Nachbarn das Leben schwer zu machen. In der Edo-Periode (1603-1868) wurden Einwohner, die der Hexerei mit Füchsen beschuldigt wurden, diskriminiert und aus dem Dorf verbannt. War eine Vereinigung zweier Familien durch eine Hochzeit geplant, wurde der Hintergrund des anderen Blutes genauestens recherchiert, um sicherzugehen, dass keine Verbindung mit einem Tiergeist oder anderweitiger Hexerei bestand.

Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden die Symptome des vom Tiergeist Besessenen sehr ernst genommen. Im Jahr 1912 schrieb der Autor Frederick Hadland Davis in seinem Buch „Myths and Legends of Japan“:

"Das Besitzergreifen eines Dämon wird oft einem bösen Fuchsgeist verschuldet. Studien von Dr. Baelz aus der Imperial University of Japan zeigen, dass die Existenz der Besessenheit von einem Tiergeist eine sehr reale und schreckliche Wahrheit ist. Der Forscher schreibt, dass ein Fuchs normalerweise durch die Brust oder unter den Fingernägeln in eine Frau eindringt und dann ein Eigenleben führt."

Verfuchstes Fremdgehen

Kitsune können menschliche Gestalt annehmen, wenn sie ein gewisses Alter (oft 100 Jahre) erreicht haben. Wenn der Fuchs dann Schilf oder breite Blätter auf seinen Kopf legt, verwandelt er sich in eine schöne junge Frau oder kopiert das Aussehen einer anderen Person. In vielen altjapanischen Kunstwerken werden Frauen mit länglichem Gesicht und dünnen Augenbrauen dargestellt, was als attraktiv galt und fuchsartig wirkte. Oft haben diese Damen Schwierigkeiten, ihren unter dem langen Kimono hervorragenden Fuchsschwanz zu verstecken.

Die amerikanische Akademikerin Karen A. Smyers schreibt in ihrem Werk „The fox and the jewel“, dass

"die Kombination von Anmut und Eleganz und sein Geschick als tödlicher Jäger die Wurzel der Beschreibung des Fuchses als Wesen mit starker, meist weiblicher, Sexualität sein könnten."

In chinesischen Geschichten verwandeln sich Füchse meistens in Frauen, schlafen dann mit verheirateten Männern und werden dadurch unsterblich, da sie die Lebenskraft des „Männchens“ stehlen. In Japan hingegen ist die Folklore oft viel romantischer. Eine Hochzeit bei Regen und Sonnenschein wird als „Fuchshochzeit“ bezeichnet, da normalerweise nur zwei Kitsune bei diesem Wetterphänomen heiraten. Kinder von Fuchs-Mensch-Liebesbeziehungen haben oft übernatürliche Kräfte.

In einer Sage rettet ein junger Nobelmann einen weißen Fuchs vor Jägern. Als Dank verwandelt sich das Tier in die anmutige Dame Kuzunoha, die ihn heiratet und ihm ein Kind gebärt. Tragischerweise kann sie nicht auf ewig ein Mensch bleiben und muss in den Wald zurückkehren. Ihr Sohn zerrt an ihrem Kimono, verzweifelt, und fleht sie an, zu bleiben. Kuzunoha hinterlässt ihm ein Abschiedsgedicht:

If you love me, darling, come and see me

You will find me yonder in the great wood

Of Shinoda of Izumi Province where the leaves

Of arrowroots always rustle in pensive mood

(Nozaki, Kitsune: Japan’s Fox of Mystery, Romance, and Humor [Tokyo, 1961], 110–111)

 Kitsune können also genauso gute Omen sein, wie Unglück bringen.

Werk: Kuzu no Ha, Utagawa Kuniyoshi
Quelle: https://www.univie.ac.at/ (Public Domain)

Folklore in der Moderne

Der Shintoismus ist auch heute noch tief in der Spiele- und Filmpopkultur verwurzelt. Fuchsartige Charaktere in Videospielen und Animes spiegeln die typischen Eigenschaften von Kitsune in alter Folklore wider: Sie sind intelligent, schmeichelhaft, hübsch, listig und erotisch.

Ahri ist eine spielbare Figur im Multiplayer-Online-Battle-Arena (MOBA) „League of Legends“, deren Name an den der Reisgöttin Inari angelehnt ist. Sie ist eine anmutige Dame mit Fuchsohren und neun Schwänzen und weist damit viele Parallelen zum klassischen Kitsune auf. Einer ihrer Attacken ist es zum Beispiel, ein Herz zu schießen, das beim Auftreffen auf den Gegner diesen benommen auf sie zugehen lässt.

Das Pokémon Vulpix entwickelt sich zu Vulnona, einem weißen, ebenfalls neunschwänzigen Fuchs. Dieser Prozess entspricht der alten Legende, dass das Tier nach 1.000 Lebensjahren seinen neunten Schwanz und damit übernatürliche Kräfte bekommt.

(M)ein Stofftier.
Foto: Lukas Zeiler

Folklore ist neben der Geografie, dem religiösen Glauben, der Sprache und der Rituale ein weiteres Teil im Puzzle, das eine kulturelle Gemeinschaft ausmacht. Mündliche und schriftliche Überlieferungen erzählen von Dingen, die besungen, gefeiert, gefürchtet und verehrt wurden. Nicht umsonst wird berichtet, dass die Merkfähigkeit von Menschen erhöht ist, wenn ein Inhalt in Form von Geschichten präsentiert wird. Auch das jüngste Kind versteht, dass es dem reißenden Fluss lieber fernbleiben sollte, wenn es nicht vom bösen Froschgott geschnappt werden will!

Wer mehr japanische Sagenlyrik lesen will, dem kann das Buch „Japanese Tales“ von Royall Tyler empfohlen werden. Folgende TED-Videos bieten ebenfalls ein gutes Sprungbrett in das Wurmloch „Antikes Japan“:

TED-Ed
TED-Ed

(Lukas Zeiler, 19.9.2020)

Lukas Zeiler ist Blogautor für TEDxVienna und studiert Digital Media Production an der FH St. Pölten. 

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