Werner Strenger, Katrija Lehmann, Frieder Langenberger, Lukas Walcher, Evamaria Salcher irren durch eine zerstörte düstere Welt, die alles außer neue Grenzen braucht.

Foto: Lex Karelly

Wie an vielen anderen Theatern im Land fand auch am Grazer Schauspielhaus am Freitag eine denkwürdige Eröffnung nach der langen Zeit des Wartens statt. Man sei ein halbes Jahr da gewesen, "aber Sie konnten nicht zu uns", sprach Intendantin Iris Laufenberg in das mit Maskierten aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen nur schütter besetzte Logentheater. Dann startete die österreichische Erstaufführung von Thomas Köcks "Dritte Republik (Eine Vermessung)", der dritte Teil der Kronlandsaga des in Berlin lebenden Oberösterreichers.

Die Proben zum 2018 am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführten Stück mussten in Graz aus bekannten Gründen im März abgebrochen werden. Ein halbes Jahr später, mitten in der Pandemie und inmitten des Dramas um die Flüchtlinge im Lager Moria geht der Text, der im Titel an Jörg Haiders gleichnamiges Programm erinnert, noch schärfer unter die Haut.

Drecksschnee der verhassten Provinz

Bei "Drecksschnee", wie ihn die Landvermesserin (Katrija Lehmann) verflucht, kämpft sich die von höherer Stelle Bestellte am Ende des Ersten Weltkrieges durch Europa und scheitert wie K. in Kafkas "Schloss" am Versuch, ihre Tätigkeit aufzunehmen. "Ich hasse die Provinz", zischt sie mehrmals ins Publikum.

Der Reihe nach begegnet sie einem pelzigen Kutscher (Werner Strenger), der sie mitnimmt, einer Fallschirmspringerin (Evamaria Salcher), die noch nicht weiß, dass der Krieg vorbei ist oder welche Sprache man dort spricht, wo sie vom Himmel baumelt, und einem im absurden Alienraupenanzug steckenden Patienten, der an seinem Normalgewicht arbeitet. Spät stößt ein Reeder mit einem Schiff in einer weiß gepuderten Perücke hinzu, der als Erster zumindest von der Ankunft der Landvermesserin gewusst zu haben scheint. Als Reeder amüsiert ein in seinem Monolog mit Leichtigkeit zwischen extremen Emotionen changierender Frieder Langenberger und weist den suchenden Figuren die Richtung zum Hafen.

Sprachgewalt

Der starke Text fand zwar auch dank der Bühne und der Kostüme von Anna Brandstätter und den unheilvollen Sounds von Bernhard Neumaier markante Bilder, doch Regisseurin Anita Vulesica gelingt es in eineinhalb Stunden nicht immer, ihre Schauspieler durch das sprachgewaltige Terrain zu führen, auf dem man leicht überknöcheln kann.

Ein hochmotivierter Chor gibt das politische Framing, das Volk bleibt ein suchendes.
Foto: Lex Karelly

Beim ganz ausgezeichneten Chor, der in Videos von Frank Holldack in Überlebensgröße auf die Bühne projiziert wird, gibt es keine Unsicherheit. Man schmettert in attischer Tradition die teils neu montierten Texte Köcks präzise und klar in die zerfallende Welt. Den Chor nicht live auf der Bühne zu haben mag epidemiologisch eine kluge Entscheidung sein, ist aber auch ästhetisch eine wunderbare Lösung. Wie das politische Framing, die Message-Control der Mächtigen schneiden sich die eingängigen Rhythmen von "Faschismus und Liebe", vom Grenzboten, der nur sein kleines Lied singt, in die Luft. Die Kinder und Erwachsenen des Chors haben Rokokoperücken auf, "Monarchy Now!" schreien ihre T-Shirts.

Dystopisch

Köcks Figuren finden in ihrer Isolation, in der dystopischen Landschaft, die daliegt wie ein verkohlter Keksteig, nicht wirklich zueinander. Ein Weltenteig, den der Bäcker nur halb ausgewalkt hat liegen lassen, weil er nicht erwartet, dass noch etwas Gutes aus ihm entstehen könnte. Doch irgendwer hat darauf noch mit dem Lineal unsinnige Linien, ja vielleicht Grenzen, gezogen. Niemand kann diese ernst nehmen.

Minutenlang lässt Regisseurin Anita Vulesica ihr Ensemble das traurig-bizarre Nebeneinander durch das Wiederholen von zwanghaften Gesten und Sätzen in ein schönes gemeinsames Bild gießen. Der Kutscher huscht mit einem leuchtenden Kästchen, das er "wart, wart" murmelnd herumträgt, als stehe Erlösung oder wenigstens besserer Internetempfang unmittelbar bevor. Die Fallschirmspringerin kämpft herumwälzend gegen Hitzewallungen ("Klimawende oder Klimakterium, das ist hier die Frage"), während sich der Patient in Schlupflöcher fallen oder hoppelnd den Arm in die Höhe schnalzen lässt. War das schon ein faschistischer Gruß oder nur der "Topform" entgegenstrebende Gymnastik?

Hysterischer Grenzschutz

Bald werden die als "Gehilfen" betitelten Mitglieder des Chors wiederauftauchen und euphorisch bis hysterisch "Klima schützen – Grenzen schützen!" skandieren – und ja, Köck hatte das schon lange geschrieben, bevor die türkis-grüne Koalition Österreichs es sich im Jänner 2020 auf die Fahnen schrieb.

Immer wieder kommen Zweifel am Sinn von Grenzen auf. Nationalismus wird verteufelt, und junge Menschen, die "unterbezahlt in ihren Schützengraben" sitzen, werden schon zu Beginn von den fünf zufälligen Zeitgenossen bemitleidet.

Ganz am Ende dann hört man auch den hochmotivierten Chor zweifeln: "Vielleicht sind wir irgendwo falsch abgebogen." Ein Abend, der leider haargenau in diese Zeit passt. (Colette M. Schmidt, 13.9.2020)