Auf Lesbos brennt ein Flüchtlingslager, und zumindest für eine kurze Zeit verdrängt die Frage nach dem Schicksal der nun obdachlosen Bewohner die Debatte über die sich zuspitzende epidemiologische Lage aus den Schlagzeilen. Immerhin ist Migration mittlerweile in ganz Europa eine zentrale politische Konfliktlinie – und das nicht erst seit 2015. Fragen von Zuwanderung und Integration sind fast überall wichtige Determinanten des Wahlverhaltens und strukturieren somit auch die europäischen Parteiensysteme.
Das Besondere an der österreichischen Diskussion zu Moria ist, dass die Konfliktlinie mitten durch die Regierung verläuft. Die Grünen sind seit Jahrzehnten die in Zuwanderungsfragen liberalste Partei, während die ÖVP ihren Kurs seit 2017 stark an die restriktive Haltung der FPÖ angepasst hat.
Wie ungewöhnlich groß der ideologische Graben zwischen dem türkisen und dem grünen Regierungspartner ist, zeigt die Grafik unten. Sie stellt die ideologische Spannweite aller derzeit amtierenden Koalitionsregierungen Westeuropas in Migrationsfragen dar: Der linke Punkt ist die Position der Regierungspartei mit der liberalsten Haltung, der rechte Punkt stellt den Koalitionspartner mit der restriktivsten Zuwanderungspolitik dar. Die Skala verläuft von null (liberal) bis zehn (restriktiv), die Daten stammen aus dem Chapel Hill Expert Survey 2019, einer Expertenbefragung zur programmatischen Einordnung europäischer Parteien. In der Grafik sind die Länder absteigend nach ideologischer Spannweite sortiert.
In Österreich liegen die Grünen bei 2,7, die ÖVP rangiert bei 8,6 – die koalitionsinterne Distanz von fast sechs Skalenpunkten (5,9) ist in Westeuropa unerreicht. Dahinter folgt die rot-grüne schwedische Regierung, wobei hier die Sozialdemokraten mit 6,3 überraschend restriktiv positioniert sind (zum Vergleich: die SPÖ wurde von den befragten Länderexperten bei 4,7 eingestuft). Mit den Niederlanden und Finnland folgen zwei Länder mit stark fragmentierten Parteiensystemen, wo die Koalitionsregierungen vier beziehungsweise fünf Parteien umfassen – was eine höhere ideologische Heterogenität nahelegt.
Nun könnte man einwenden, dass es kaum Koalitionsregierungen gibt, in denen alle Parteien in allen Bereichen große Übereinstimmung aufweisen. Das Außergewöhnliche an Türkis-Grün ist aber, dass es kaum ein Politikfeld gibt, in dem die beiden Parteien nicht meilenweit voneinander entfernt liegen. Die Chapel-Hill-Daten zeigen, dass die ideologischen Distanzen zwischen ÖVP und Grünen auch bei so wesentlichen Fragen wie Steuer- und Sozialpolitik (5,4), Umwelt (5,6), Sicherheitspolitik (5,8) oder Gleichstellung (5,7) sehr groß sind. Ähnliches ließe sich wohl für die (nicht abgefragten) Bereiche Bildung und Transparenz festhalten.
So gesehen ist Türkis-Grün eine ideologische Verlegenheitsvariante – ein Produkt des Ibiza-Skandals und der massiven Aversion des türkisen Spitzenpersonals gegenüber der großen Koalition (was nicht ganz ohne Ironie ist, immerhin wurzelte der oft gescholtene "rot-schwarze Stillstand" vor allem in programmatischen Differenzen zwischen SPÖ und ÖVP). Mit der Bekämpfung der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen (was beileibe keine Banalität ist) hat Türkis-Grün unfreiwillig eine Raison d'Être erhalten. Die ideologischen Gräben dahinter sind somit vorerst zugedeckt, aber sicher nicht verschwunden. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 14.09.2020)