Netanjahus Corona-Krisenmanagement bringt regelmäßig zahlreiche Kritiker auf die Straßen.

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Israel zeigt vor, was anderen Ländern noch drohen könnte: Als erstes Land der Welt geht man hier auf den zweiten nationalen Lockdown zu. Ab Freitag dürfen sich Bewohner drei Wochen lang maximal 500 Meter vom Wohnsitz entfernen. Schulen und Geschäfte müssen schließen, nur der Handel mit Lebensmitteln und anderen unverzichtbaren Produkten ist erlaubt, Restaurants dürfen nur noch zustellen. Treffen in Innenräumen sind auf zehn Personen, Treffen im Freien auf zwanzig Personen beschränkt.

Es gebe keine andere Wahl, sagte Ronni Gamzu, Corona-Krisenmanager der Regierung, in einer Pressekonferenz am Sonntag. "Diese Epidemie raubt mir den Schlaf." Er sei sich bewusst, wie schwer die kommenden drei Wochen für die Menschen sein werden. "Aber es ist das kleinere Übel." Israel hat sich vom Musterschüler der ersten Epidemiewelle zum weltweiten Sorgenkind entwickelt. Im Frühjahr starben hier so wenige Patienten wie kaum anderswo an Covid-19. Wenige Monate später führt Israel das weltweite Ranking an täglichen Neuinfektionen pro Kopf.

Viele schwere Fälle

Das liegt zwar auch daran, dass nun deutlich mehr Tests durchgeführt werden als in der ersten Welle. Es ist aber die hohe Zahl an schweren Fällen, die Sorgen macht. Vor einigen Wochen hieß es, mehr als 400 schwere Fälle könnten die Spitäler nicht verkraften. Am Montag zählten die Corona-Stationen bereits 529 ernste Fälle. Ein weiterer Ansturm wäre der Super-GAU, heißt es.

Doch genau das wäre ohne Lockdown das drohende Szenario: Am Freitag leitet das jüdische Neujahrsfest den Monat der hohen jüdischen Feiertage ein. Da strömen die Frommen in die Synagogen, Säkulare treffen einander bei üppigen Familienessen, zu denen Verwandte aus allen Ecken des Landes anreisen – und das Virus auch in jene Gebiete tragen, die bisher noch weitgehend verschont geblieben waren.

Wut bei Geschäftsleuten

Der Ärger über den verordneten nationalen Schlummermodus ist unter vielen Israelis groß, aber so richtig wütend sind die Geschäftsleute, die den ersten Lockdown finanziell noch nicht verdaut haben. Einige sind so zornig, dass sie sogar vor laufender TV-Kamera erklären, sie würden das Sperrgebot "ganz bestimmt nicht" befolgen.

Während die meisten Israelis vor allem den Beginn des Lockdowns fürchten, zittern viele Experten schon vor seinem Ende. Sie befürchten, dass sich frühere Fehler wiederholen. Ende Mai war Israel, euphorisch über die gut überstandene erste Welle, "von null auf hundert gegangen", kritisiert Galia Barkai vom Sheba Medical Center. "Ein Fehler war, dass wir alle Kinder zugleich in die Schulen geschickt haben." Vor allem in den kinderreichen Familien der jüdischen Ultraorthodoxen und der israelischen Araber breitete sich das Virus aus. Beide Gruppen eint, dass sie mit vielen Kindern auf engem Wohnraum leben und dem israelischen Staat tendenziell misstrauisch gegenüberstehen. Da können Verhaltensregeln wie Maskenpflicht und Abstandsgebot noch so sinnvoll sein – wenn sie vom Staat kommen, sieht man sie skeptisch.

Dichtgedrängt in Synagogen

Die Bilder aus Synagogen, in denen Männer dichtgedrängt sitzen und niemand Maske trägt, waren auch der Regierung bekannt. Sie unternahm, trotz eindringlicher Warnungen des Corona-Beauftragten, nicht viel. Die ultraorthodoxen Parteien sind Teil der Regierung. Zwar stellen sie nur drei der 34 Minister. Wer gegen ihren Willen handelt, riskiert jedoch ein Platzen der Koalition, da ohne ultraorthodoxe Parteien keine Mehrheit im Parlament zustande kommt.

Wie groß das politische Sprengpotenzial der strengen Frommen ist, zeigte sich am Sonntag. Kurz vor der Regierungssitzung zum Lockdownbeschluss reichte der ultraorthodoxe Bautenminister Yaakov Litzman aus Protest seinen Rücktritt ein. Der frühere Gesundheitsminister, der sich im April selbst mit dem Virus infiziert hatte, bezeichnete den Lockdown als feindlichen Akt gegen die frommen Juden. Aber auch jüngere säkulare Israelis ließen in den vergangenen Monaten die Maske gern baumeln. "Die Leute sagten: Die erste Welle haben wir überstanden, und sie war gar nicht so schlimm wie behauptet", resümiert Medizinerin Barkai. "Sie mussten die Patienten an den Beatmungsgeräten ja auch nicht mit eigenen Augen sehen."

Allein am Sonntag meldete Israel 3.180 neue Infektionsfälle. Sobald man die täglichen neuen Fälle auf unter 1.000 Ansteckungen gedrückt habe, werde man den Lockdown ausschleifen lassen, hieß es aus dem Gesundheitsministerium. Public-Health-Experte Gabi Barbash findet das "skandalös". Diese Schwelle sei viel zu hoch, mehr als zweihundert neue Fälle pro Tag seien inakzeptabel. Wer den Lockdown frühzeitig beende, "wirft Milliarden Schekel in den Müll", meint Barbash. "Und dafür werden wir noch teuer bezahlen." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 14.9.2020)