Plötzlich ist die zweite Welle da – also natürlich erst, seit sie Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Wochenende offiziell verkündet hat. Die Corona-Infektionszahlen steigen hierzulande zwar schon seit einigen Wochen bedenklich an, aber das war noch keine Brandrede wert. Erst als am Freitag mit fast 900 Neuinfizierten am Höchstwert aus dem Frühjahr gekratzt wurde, ist Kurz endgültig alarmiert und will nicht, dass die Situation "schöngeredet" wird. Dabei waren es der Kanzler sowie sein Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), die sich unlängst einen Run um die beste gute Nachricht lieferten und ihren Hinweis auf die Herausforderungen im Herbst und Winter selbst herunterspielten.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne).
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Kurz tauchte nach den Sommerferien aus dem Nichts auf und verkündete das "Licht am Ende des Tunnels". Nächsten Sommer sei wieder alles gut, weil es einen Impfstoff geben soll, meinte er. Anschober toppte das mit der Ansage, dass es schon im Jänner so weit sein könnte. Belege dafür haben offenbar weder Kanzler noch Minister parat.

Sowohl im Kanzleramt als auch im Gesundheitsministerium weiß man, wie Kommunikation funktioniert – dass die Aussicht auf einen Impfstoff und Normalität die schwierigen Phasen im Herbst und Winter machbarer erscheinen lässt. Aber auch, dass das die Titelseiten eher schmückt als der grobe Sager, dass die nächsten Monate schwieriger werden. Das ist schon länger klar. Nur noch ein bisschen durchhalten, dann ist es überstanden, lautete die Botschaft. Absurd wird dieser Wettlauf der Heilsbringer, wenn sie kurz darauf wieder zu kalten Mahnern mutieren.

Schwerer Herbst

An einem Tag soll man das Licht am Ende des Tunnels sehen. Im nächsten Moment ist die zweite Welle da, obwohl der Herbst noch nicht einmal begonnen hat. Dass die Zahlen so früh und so rasch in die Höhe schnellen, darauf wurde niemand in den unzähligen Interviews nach der Sommerpause vorbereitet. Es war auch von einem schweren Herbst und Winter die Rede, ohne je einzuordnen, was das heißt und was da noch auf uns zukommt.

Wohl nicht zu Unrecht fragt man sich bei der derzeitigen Infektionsstatistik: Kommt da bald noch mehr, und was passiert dann? Israel, das Kurz zu seinen geschätzten Vorbildern in der Corona-Krise zählt, verhängt ab Freitag einen dreiwöchigen Lockdown – allerdings wegen 4.000 Fällen pro Tag.

Die Regierung betont zwar die Verantwortung jedes Einzelnen in der Krise. Sie ist aber für die politische Atmosphäre zuständig, in der wir uns bewegen. Und da hakt es ordentlich, was die Glaubwürdigkeit anlangt. Vor nicht allzu langer Zeit warnte Kurz davor, dass bald jeder jemanden kennen wird, der an Corona verstorben ist. Wenig später öffnete er mit Anschober die ersten Geschäfte, die Maskenpflicht fiel kurzzeitig weitgehend, und der Kanzler verkündete auf Facebook, dass "wir die gesundheitlichen Folgen der Krise überstanden haben". Die Realität sieht anders aus. Nur zu gut in dieses Bild passt, dass Gesundheitsminister Anschober nun in der ORF-Pressestunde entgegen den Äußerungen des Kanzlers noch von keiner "echten zweiten Welle" spricht.

Was uns in den nächsten Monaten erwartet und erwarten könnte, ist zu wenig Thema. Doch es ist unglaublich wichtig, dass greifbar und abschätzbar wird, wann welche Maßnahmen getroffen werden. Immerhin müssen wir uns alle fügen und auf Zeit damit leben. (Jan Michael Marchart, 14.9.2020)