Den Pokal in Händen.

Foto: USA TODAY Sports/Danielle Parhizkaran

Dominic Thiem saß hinter dem Silberpokal der US Open und war überwältigt von seinen Emotionen. "Definitiv habe ich ein Lebensziel erreicht." Also sprach der 27-jährige Niederösterreicher mehr als eine Stunde nach seinem dramatischen Fünfsatzsieg gegen den Deutschen Alexander Zverev. "Es ist ein Traum von mir, den ich seit vielen, vielen Jahren hatte." Ein Traum, den er im vierten Finalanlauf realisierte – nach einem Zweisatzrückstand, nach 4:01 Stunden, mit 2:6, 4:6, 6:4, 6:3 und 7:6 (6).

Thiem hatte in einem verrückten Match gezittert, gezweifelt und gewackelt. Die Emotionen, sollte er später sagen, seien "sehr, sehr schwer zu handeln" gewesen. Mag sein, Zverev hatte es im dritten Satz verabsäumt, seine Führung mit Break zu nützen und den Sack zuzumachen. Mag sein, in dieser kritischen Phase hat ein Ball von Thiem, den er selbst im Out gesehen, der die Linie aber noch angekratzt hatte, das Match gedreht.

Auf einer Stufe mit Muster

Am Ende konnte der Österreicher als Sieger des 150. Major-Turniers quasi eine Zwischenbilanz ziehen: "Ich habe im Grunde mein ganzes Leben bis zu diesem Punkt dem Ziel gewidmet, ein Major zu gewinnen." Nun steht er diesbezüglich auf einer Stufe mit dem Steirer Thomas Muster, der 1995 die French Open für sich entschieden hatte.

US Open Tennis Championships

1995, man fasst es kaum, 25 Jahre ist das schon wieder her! Gut möglich, dass auch Thiem – wie seinerzeit Muster – noch Nummer eins der Tenniswelt wird. Wie gesagt, wir reden von einer Zwischenbilanz, und die Kundigen trauen ihm das klarerweise zu.

Natürlich haben der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Sportminister gratuliert, das nennt man ein G’hörtsich. Für den Sieg in New York hat Thiem einen Scheck über drei Millionen US-Dollar (2,53 Mio. Euro) eingestreift, damit hält er bei einem Karrierepreisgeld von bereits 26,9 Millionen Dollar. Für ihn zu diesem Zeitpunkt fast noch erfreulicher sind 2000 ATP-Punkte, mit denen er Platz drei in der Weltrangliste festigte – hinter Novak Djokovic und Rafael Nadal.

Gratulation aus Rom

Die US Open 2020 werden nicht wegen eines hochklassigen Endspiels in die Geschichte eingehen, aber aus diversen anderen Gründen. Immerhin gab es erstmals seit dem Kroaten Marin Cilic (US Open 2014) einen neuen Grand-Slam-Sieger und erstmals seit dem Schweizer Stan Wawrinka (US Open 2016) einen, der nicht Djokovic, Nadal oder Roger Federer hieß. Djokovic hatte sich selbst aus dem Turnier genommen, als er im Achtelfinale eine Linienrichterin abschoss und disqualifiziert wurde. Nadal und Federer hatten von vornherein wegen der Corona-Pandemie abgesagt.

Djokovic stand am Montag zu Beginn des Masters-1000-Turniers in Rom nicht an, Thiem zu gratulieren. "Er hat den Titel wahrscheinlich mehr als jeder andere verdient. Ich weiß aus Erfahrung, dass der erste Grand-Slam-Erfolg eine große Erleichterung ist. Man fängt an, mehr an sich zu glauben, und hat weniger Druck." Nadal, ebenfalls in Rom im Einsatz, schloss sich an: "Dominic hat es verdient", sagte er. Thiem lässt Rom klarerweise aus, Hamburg in der Woche drauf könnte ein Thema sein, die French Open in Paris (ab 27.) sind es ganz sicher. Heute Mittag gibt Thiem in Wien eine Pressekonferenz.

Ein seltener Kraftakt

Trotz der US-Open-Absenzen ist Thiems vor allem auch mentale Leistung, in der New Yorker "Bubble" mit Ausgangsverbot und regelmäßigen Corona-Tests letztlich als Favorit zu bestehen, nicht hoch genug einzuschätzen. Als Erster überhaupt in einem US-Open-Finale hat er einen 0:2-Satzrückstand gedreht. In Grand-Slam-Endspielen ist ein solcher Kraftakt zuvor nur viermal in Paris gelungen, zuletzt 2004 dem Argentinier Gaston Gaudio.

Der Auszug aus Pressestimmen zu Thiems Erfolg kann nur ein kursorischer sein. Der britische Telegraph fasste zusammen: "Es war das beste und das schlechteste Finale, kein echter Tennis-Höhepunkt, aber ein unvergessliches Drama." Auf den Punkt brachte es Frankreichs L’Equipe: "Dream Thiem!" (Fritz Neumann, 14.9.2020)