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"Psychologische Therapie muss allen, die sie brauchen, zugänglich sein", appelliert Beate Wimmer-Puchinger an die Politik. Sie ist Präsidentin des Bundesverbands österreichischer Psychologinnen und Psychologen.

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Eigentlich ist das Problem nicht neu. Während Corona hat es allerdings neue Dimensionen angenommen. 39 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher waren in der Vergangenheit oder sind aktuell von einer psychischen Erkrankung betroffen – das belegt die Karmasin-Studie "Psychische Gesundheit in Österreich". 65 Prozent der Befragten können sich eine notwendige Behandlung aber nicht leisten. Und das, obwohl während der Pandemie vor allem psychische Belastungen wie Depressionen, Angststörungen und Schlaflosigkeit zugenommen haben.

Der Bundesverband österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP) sieht "großen Handlungsbedarf". "Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hatte Österreich bei der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen massiven Aufholbedarf", heißt es aus dem Verband. "Die aktuelle Krise hat diese Situation nur noch weiter verschärft und stellt Betroffene und ihre Angehörigen vor völlig neue Herausforderungen."

Seitens der Politik wurde von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) der Beginn von Gesprächen angekündigt. Ein Round Table ist für 22. September geplant – für Branchenkenner wenig vielversprechend, da sich auch nach dem letzten Treffen 2019 nur wenig verändert habe.

Eine Frage des Geldes

Die Studienergebnisse seien jedenfalls erschütternd und zeigten den enormen Aufholbedarf bei der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Österreich, betont Beate Wimmer-Puchinger, Präsidentin des Berufsverbands im Gesundheitsministerium. "Wichtige, hochqualitative psychologische Therapie muss allen, die sie brauchen, zugänglich sein und darf nicht von der Geldbörse der Betroffenen abhängen."

Nach wie vor Lücken in der Behandlung, vor allem beim Zugang und den finanziellen Hürden, attestiert auch Gesundheitsminister Anschober im Zuge der Karmasin-Studie: "Wir müssen ernst machen, diese Lücken zu schließen und zu handeln, sodass es für jeden Betroffenen einen entsprechenden finanzierbaren, leistbaren Zugang zur Behandlung und zur Unterstützung gibt." Die derzeitige Versorgungssituation im niedergelassenen Bereich ist geprägt von fehlenden Behandlungsplätzen. Vor allem betrifft das die Plätze, die von den Krankenkassen finanziert werden. Dazu kämen noch monatelange Wartezeiten, Transferprobleme vom stationären zum niedergelassenen Bereich und hohe Kosten privater Behandlungen.

Um dem rechtzeitig gegenzusteuern, kündigte die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) im Juni eine Aufstockung der Kontingente für Psychotherapie um 20.000 Plätze an. "Wir fordern mit der Initiative #mehrpsychotherapiejetzt mehr leistbare Plätze. Die Erhöhung ist ein erster Erfolg unserer Bemühungen. Bis zu einer angemessen psychotherapeutischen Versorgung für Österreicherinnen und Österreicher ist allerdings noch einiges zu tun", sagt Peter Strippl, Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie.

Die ÖGK habe mit der Erhöhung der Plätze eine längst überfällige Entscheidung für die psychische Gesundheit der Menschen getroffen. Die psychische Erkrankung sei aber weiterhin die einzige im Gesundheitsbereich, deren Behandlung auf eine Platzanzahl begrenzt ist. Darüber hinaus sei die Kontingentierung ohnehin ein "historisches Relikt", das "endgültig aufzuheben" sei.

Psychotherapeuten vs. Psychologen

Diese Maßnahme befeuert allerdings auch den andauernden Zwist zwischen zwei Berufsgruppen. Die Sparte der Psychologen kämpft bereits seit Jahren um Anerkennung. Den meisten Menschen fällt eine Unterscheidung zwischen den Berufsgruppen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie schwer. Jede dieser Berufsgruppen deckt einen eigenen Bereich der Behandlung psychischer Erkrankungen ab. Wobei in manchen Bereichen Überschneidungen möglich sind.

"Wir müssen psychische Versorgung in Österreich neu denken, und dazu gehört auch, dass die psychologische Therapie endlich auch Kassenleistung wird", erklärt BÖP-Präsidentin Wimmer-Puchinger. Derzeit müssten Betroffene, im Gegensatz zur Psychotherapie, die Kosten für klinisch-psychologische Behandlung zu 100 Prozent selbst zahlen – ohne Rückerstattung.

Etwa 11.000 klinische Psychologinnen und Psychologen sind zurzeit in Österreich tätig. Klinisch-psychologische Diagnostik sowie klinisch-psychologische Behandlung und Therapie zählen zu ihren zentralen Aufgaben. "Damit leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur psychologischen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen", heißt es seitens des BÖP. Und um genau diese psychische Gesundheit ist es derzeit in Österreich ja nicht gerade gut bestellt.

Große Ankündigungen, kein Ergebnis

Dass viel gesprochen und diskutiert, tatsächlich aber nur wenig umgesetzt wird, das kritisiert Saskia Dreier, Vorstandsmitglied der Gesellschaft kritischer Psychologinnen und Psychologen. "Natürlich ist es durchaus begrüßenswert, dass hinsichtlich der Psychotherapie vorgegriffen wurde und Kassenplätze aufgestockt wurden. Der Bedarf während der Pandemie ist ja auch massiv gestiegen", erklärt Dreier. Tatsächlich sei der Bedarf aber generell sehr hoch, und anstatt einer weiteren Erhöhung sei es eigentlich viel nötiger, ein neues Gesamtkonzept zu präsentieren, das die brachliegenden Ressourcen bestehender klinischer und Gesundheitspsychologen mit freier Praxis inkludiert.

Die Aufstockung um circa 20.000 Plätze würde nur den Bereich der Psychotherapeuten, nicht den der Psychologen betreffen. Dass so eine ganze Sparte ignoriert wird, ist für die klinische Psychologin unerklärlich. "Würde man uns einbeziehen, würde das auf einen Schlag alle Probleme lösen", meint Dreier. "Psychologen arbeiten ja auch im präventiven Bereich, nicht nur kurativ, in Kurz- oder Langzeitphasen", so Dreier. Auch die Krisenintervention zählt zum Aufgabenbereich der Berufsgruppe.

Man könne viel verändern, wenn man zumindest eine Bezuschussung ins Auge fassen würde. Argumentiert wird dagegen allerdings immer, dass klinische Psychologen ja Diagnostiker seien, und für die Diagnostik gebe es eine Kassenversorgung. "Die ist aber sehr begrenzt und auf bestimmte Wahlpsychologen. Außerdem ist nicht jeder Psychologe, der frei in der Praxis tätig ist, rein auf Diagnostik spezialisiert", erklärt sie. Dieses starre Festhalten an alten Strukturen würde über kurz oder lang dazu führen, dass klinische Psychologen in ein "diagnostisches Eck" gedrängt werden.

Darüber hinaus würden zwar "die Kosten für die psychologische Diagnostik von den Kassen übernommen werden, die Behandlung aber nicht", betont Dreier die Absurdität. Aber was nützt eine Diagnose ohne Behandlung? "Vielleicht liegt es daran, dass die Psychotherapeuten eine viel besser aufgestellte Lobby haben", sinniert Dreier. "Oder aber die verhandeln besser." (Julia Palmai, 19.9.2020)