Der Autor bei der Abfahrt von der legendären Passhöhe Col du Galibier, verfolgt von seinem Guide.

Foto: Paul Jover

Qual und Genuss liegen beim Rennradeln eng beieinander – gerade im Vercors, einem Nebenstraßenparadies in den französischen Voralpen. Es war heuer Schauplatz der 16. Etappe der Tour de France, deren Tross bereits fast am Ziel in Paris angekommen ist: Am 20. September geht die 107. Austragung des wichtigsten Etappenrennens im Straßenradsport zu Ende – bislang zum Glück ohne allzu große Beeinträchtigungen oder gar Ausfälle durch Corona.

Noch am Vormittag rollen unsere Räder wie von allein durch den wildromantischen Vercors nahe der Gemeinde Die, ein 4.000-Seelen-Ort am Rande der Provence, frei von touristischem Trubel, dafür mit reichlich Patina. Knapp über 20 Grad Celsius, nahezu windstill, Steigung um die acht Prozent, keine Autos und auch keine Motorräder, die durchs Tal röhren – als wäre das Sträßchen noch für die Tour de France gesperrt. Nur das sanfte Surren der frisch geölten Fahrradkette und das friedliche Plätschern des Gebirgsbachs, in dessen glasklares Wasser man am liebsten hüpfen würde. Aber dafür ist es zu früh, noch sind 125 Kilometer und knapp 2.600 Höhenmeter zu meistern – für einen Hobbysportler ein ordentliches Tagespensum, auch wenn es bei einer Bergetappe der Tour de France schon einmal mehr als 4.000 Höhenmeter sind.

Zum Warmwerden

Der knapp 20 Kilometer lange Anstieg zur Passhöhe Col de Pennes ist gerade recht zum Warmwerden. Die anschließende Abfahrt auf einsamer Straße ins Drôme-Tal wird zum rasanten Vergnügen. Doch bereits beim nächsten Anstieg ist alles anders: brütende Nachmittagshitze, dazu die Pässe vom Vortag in den Beinen. Die Reifen wollen nicht mehr richtig rollen, scheinen auf dem heißen Asphalt kleben zu bleiben. Alles brennt, die Beine, der Hintern und auch die Augen, in die der Schweiß von der Stirn tropft. Ein Einbruch ohne Vorwarnung, wie man ihn schon als Zeuge zerplatzter Träume vom Gesamtsieg mancher Tour-Favoriten im Fernsehen miterlebt hat. Jetzt und hier ist das Leiden real, ehe endlich ein Tunnel auftaucht. Am Ende des Tunnels ist bekanntlich Licht. Es leuchtet hell in Form des weißen Transporters von Heinz.

Wie immer hat Heinz seinen Klapptisch aufgebaut, bevor die hungrige Meute anrollt. Darauf findet man alles, was ausgezehrte Radler wieder zu Kräften kommen lässt. Der Pensionist ist der gute Geist von "Quäl-dich-Reisen", einem Anbieter, der für seine Rennrad-Trips mit dem Slogan wirbt: "Hauptsache, bergauf". Heinz kümmert sich auf der siebentägigen Rundfahrt mit Start und Ziel im savoyischen Chambéry auch um das Gepäck von einem Etappen-Ort zum nächsten. Am Ende werden es gut 700 Kilometer sein. Ein kleines Ringerl im Vergleich zu den 3.484 Kilometern der "Grande Boucle", der großen Schleife der Tour de France.

Heftige Krämpfe

Nach und nach trudeln auf der Passhöhe all die tapferen Hobbyradler ein, die sich vom Namen des Reiseveranstalters nicht haben abschrecken lassen. Es ist ein buntes Völkchen. Da ist zum Beispiel Sebastian: 35 Jahre alt, Soldat, der per Radcomputer permanent seine Leistungswerte überwacht – was ihn am zweiten Tag nicht vor einem bösen Einbruch bewahrt. Edi vertraut mit seinen 74 Jahren und Hunderttausenden von Kilometern in den Beinen allein der Erfahrung auf dem "Velo". Der Schweizer Pensionist muss "niemandem mehr etwas beweisen", wie er sagt. Andere – vor allem die jüngeren unter den 19 Teilnehmern – gehen oft an ihre Grenzen, um als Erste auf dem Berg zu sein. Deshalb wird das Feld auch in drei Leistungsklassen aufgeteilt.

Am lockersten nimmt es die Cappuccino-Gruppe. Der eine oder andere von ihnen füllt ein Radtrikot der Größe XL aus – so auch Michael. Gleich am ersten Tag, als der "Quäl dich"-Tross mehrere Pässe der Chartreuse erklimmt, plagen den IT-Experten eines Pharmakonzerns heftige Krämpfe in den Beinen. "Wahrscheinlich zu wenig Elektrolyte im Getränk", lautet Michaels Selbstdia gnose am Etappen-Ort Villards-de-Lans, in dem die Tour de France in diesem Jahr ebenfalls Station gemacht hat. Die Dosis reichte vielleicht für seine Trainingsfahrten im Hobbyraum vor virtueller Kulisse auf dem TV-Bildschirm, aber eben nicht für den echten Ritt über die französischen Berge. Michael wird sein "Schmutzbier" nach jeder Zielankunft brauchen.

Motivationssteigerndes Kaltgetränk

"Schmutzbier" – so nennt Luc, einer der drei umsichtigen Guides, das erste Kaltgetränk, weil man es sich noch im verschwitzten Radtrikot gönnt. Es steht garantiert nicht auf der Dopingliste, ist aber leistungsfördernd, weil motivationssteigernd. Beim "Schmutzbier", das ruhig alkoholfrei sein darf, werden dann Watt-Werte und Pulsfrequenzen auf den Radcomputer verglichen. Vor allem aber lässt man den Tag Revue passieren und gerät kollektiv ins Schwärmen –etwa über die Fahrt durch die Gorges de la Bourne: ein Canyon, den der Fluss über Jahrmillionen wie ein Schneidbrenner in den weichen Kalkstein gefräst hat. An vielen Stellen war den Straßenbauern nichts anderes übriggeblieben, als die Trasse in den Fels zu sprengen, um den Weg Richtung Pont-en-Royans frei zu machen. In dem malerischen Städtchen kleben schiefe Häuser an den Felswänden, unter denen die Bourne rauscht.

Andere geraten ins Schwärmen, wenn sie an die vielen Abfahrten denken – manche 15 oder 20 Kilometer lang, wie jene vom Col de Rousset, herrlich terrassiert mit langen Haarnadeln. Die machen nicht nur optisch viel her, sondern sind auch perfekt zu fahren.

Der Traum von den Bergen

Kleine und große Dünen – in diese Kategorien teilt der zweite Michael im "Quäl dich"-Feld Berge ein. Er ist Ostfriese, kennt Erhebungen bloß in sandiger Form und hat seine Rennradkarriere ebenfalls im XL-Trikot begonnen. Mittlerweile bringt er nur noch 75 Kilogramm auf die Waage, bei seinen Touren durch die norddeutschen Ebenen träumt er stets von den Bergen.

An Tag vier wartet auf Michael eine "richtig hohe Düne", wie er mit Respekt anmerkt. Es handelt sich um die legendäre Auffahrt zum Wintersportort Alpe d’Huez mit 1.100 Höhenmetern – und mit 21 Kehren, in denen sich schon zahllose Tour-de-France-Dramen vor Publikum abgespielt haben. Heute stehen keine Menschenmassen Spalier, rennen keine irren Fans hinter den Profis her. Gelegentlich hupen Autofahrer oder brüllen Beifahrer durchs offene Fenster "Bon courage!" – als Anfeuerung und nicht weil sie genervt sind. Nach der Ankunft in Alpe d’Huez wird eine Touristikerin aus dem Ort erzählen, dass sich hier an manchen Tagen mehrere Hundert Radfahrer heraufquälen.

Ouvertüre für die eigentliche Herausforderung

Wer die Einsamkeit sucht, findet sie bereits wenige Kilometer östlich von Alpe d’Huez auf der schmalen Straße zum Col de Sarenne. Diese Tour ist ein Kleinod und bietet bei klarer Sicht imposante Ausblicke auf den Gipfel der 3.983 Meter hohen Meije und die strahlend weißen Gletscherfelder darunter. Die Abfahrt verlangt wegen vieler kleiner Steinchen in den Kurven höchste Konzentration, ist aber landschaftlich vom allerfeinsten. Sie endet im Romanche-Tal, wo der Anstieg zum Col du Lautaret beginnt – die Ouvertüre für die eigentliche Herausforderung des Tages.

Der Lautaret ist quasi der Vor-Pass zum Col du Galibier – flach, aber mit knapp 35 Kilometern aus westlicher Richtung kommenden zermürbend lang. Hier braucht man gutes Sitzfleisch – und am Ende wieder Heinz. Der hat seinen weißen Transporter bereits am Col de Lautaret geparkt. Vorbeikommende Radler, die nicht zur Gruppe gehören, schauen neidisch auf das Buffet, unsere letzte Stärkung vor dem Col du Galibier. 2.642 Meter hoch und schon viele Male das Dach der Tour de France, ist der Col du Galibier ein Radsport-Mythos. Doch in diesem Jahr hat ihn die Tour einfach ausgelassen – wir wollen das nicht.

Einem Mythos begegnet man mit Respekt, auch wenn dieser nach den ersten Kilometern schwindet: Der Anstieg ist weniger hart als gedacht. Zudem mobilisiert die grandiose Kulisse mit all den Bergriesen der französischen Alpen die letzten Kräfte. Erst ganz oben, wo die Vegetation karg und die Luft dünn werden, beginnt das Leiden. Wer bis hierher der Meinung war, Qualen und Genuss gehen nie und nimmer zusammen, kann sich in 2.642 Meter Seehöhe mit Blick auf den Mont Blanc vom Gegenteil überzeugen. (Roland Wiedemann, RONDO, 18.9.2020)