Bild nicht mehr verfügbar.

In Lesbos übernachten 10.000 Migranten auf der Straße.

Foto: AP/Petros Giannakouris

STANDARD: Wie ist die Situation für die obdachlosen Geflüchteten nun auf Lesbos?

Lauth Bacas: Noch immer übernachten sehr viele auf der Straße. Nur eine kleine Minderheit ist in das neu erbaute Zeltlager gegangen – zwischen 500 und 900 Menschen. Das bedeutet, dass sicher 10.000 Menschen obdachlos sind. Die griechische Regierung verteilt einmal am Tag abgepackte Essensportionen und Wasser. Aber nicht alle bekommen etwas ab, weil die Verteilung sehr ungeordnet ist. Es fehlt zudem komplett an Hygienevorrichtungen und Möglichkeiten einzukaufen. Beide großen Supermärkte nahe am alten Lager sind geschlossen, seitdem der Brand ausgebrochen ist. Einige Schutzsuchende sind über Schleichwege doch in die Stadt Mytilini gelangt und konnten ein paar Lebensmittel einkaufen. Aber sie können auch nur wenige versorgen. Die Hauptstraße nach Mytilini ist über einen Polizei-Cordon gesperrt.

Die Regierung sagt nun, dass nur jene, die in das neue Lager gehen, versorgt werden. Aber die meisten Geflüchteten haben Angst davor, weil sie zu wenige Informationen haben. Sie denken, dass sie monatelang in diesem eingezäunten Lager auf dem ehemaligen Schießgelände bleiben müssen. Auf dem Gelände stehen eng aneinandergedrängt viele Reihen von Sechs-Personen-Zelten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, und entlang der Stacheldrahtzäune stehen Toilettenkabinen. Anfangs hieß es, dort sei für 3.000 Leute Platz, nun heißt es: für 5.000 Leute. Es ist so oder so nur eine Art Sardinenlösung.

STANDARD: Und wohin sollen die restlichen 5.000 Personen?

Lauth Bacas: Es ist unklar, wo das neue Gelände für das Zeltlager für diese Leute sein soll. Das zeigt eine erschütternde Konzeptlosigkeit der verantwortlichen Ministerien und zuständigen Verwaltungen in Griechenland.

STANDARD: Reden die Behörden mit den Geflüchteten?

Lauth Bacas: Nein, das ist ein weiteres Problem: Die Menschen auf der Straße haben keinen Ansprechpartner. Was die Flüchtlinge sehen, ist die Polizei in Kampfuniform. Wenn sie sich den Absperrungen nähern, wurde auch schon Tränengas geschossen. Die Presse und einige wenige NGOs haben Zugang. Ärzte ohne Grenzen haben ein kleines Zelt aufgebaut. Die Geflüchteten können auch nicht ins Lager Moria zurück, um etwa Wasser zu holen, denn das Gelände ist noch übersät mit schwarzer Asche.

STANDARD: Was sind die wichtigsten Signale, die die Regierung aussendet?

Lauth Bacas: Man versucht zu vermitteln, dass in dem neuen Lager alles geordnet ist und nur diejenigen die Insel verlassen können, die ins Lager gehen und nach dem Asylverfahren einen Bescheid bekommen. Die Botschaft ist: Der Weg von der Insel weg führt über das Lager.

STANDARD: Wie viele jener Menschen, die zuletzt in Moria lebten, haben einen Asylstatus?

Lauth Bacas: Viele derjenigen, die in den vergangenen Monaten Asyl bekommen haben oder als besonders schutzbedürftig eingestuft worden sind, waren vor dem Feuer schon abgereist. Anfang des Jahres lebten noch über 20.000 Menschen im Lager – jetzt waren es noch 12.700. Es gab aber auch einige Fälle von anerkannten Flüchtlinge, die noch in Moria geblieben sind, weil die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge in Athen sehr ungewiss sind – wegen der schwierigen Situation der Wirtschaft und der Corona-Krise. Deshalb gab es auch den Fall jenes anerkannten Flüchtlings, eines Somaliers, der wegen Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit in Athen wieder nach Moria zurückgekehrt ist und mit Covid-19 infiziert war.

Derjenige Teil des Lagers, in den er zurückgekehrt war, ist nicht umzäunt. In dem sogenannten Olive Grove ist ja alles offen. Die Polizei kontrollierte während des Lockdowns nur die Ausgänge aus dem umzäunten Teil des Camps und die Bushaltestellen.

STANDARD: Was weiß man über die Ursachen für die Brände?

Lauth Bacas: Die Feuerwehr hat festgestellt, dass mehrere Brände zugleich ausgebrochen sind. In Griechenland hat es nun über Monate über 30 Grad gehabt. Es war sehr windig und trocken. Und im Grunde kann schon eine Whiskyflasche zu einem Brandherd werden. Die Spannung unter den Menschen, die Ungewissheit und Sorge nach dem Ausbruch der ersten Corona-Fälle war sehr groß. Man kann sich Frustreaktionen vorstellen.

STANDARD: Wie reagiert die Lokalbevölkerung?

Lauth Bacas: Die Lokalbevölkerung auf Lesbos hat in den letzten fünf Jahren viel Geduld und sehr viel Solidarität gezeigt. Immer wieder haben die Menschen in den Dörfern rund um das Lager und in der Stadt Mytilini Spenden gesammelt und konkret geholfen. Bis zum Lockdown kamen Geflüchtete in die Stadt, und es gab Aktivitäten für minderjährige Flüchtlinge. Durch die Risiken einer Ausbreitung von Covid-19 sind die Sorgen und Ängste der Inselbevölkerung aber nun viel größer geworden. Man will nun keine Zwischenlösungen und keine Provisorien mehr – wie das Lager Moria –, die sich über die Jahre verschlechtern, ohne dass die Nationalregierung und die EU sichtbar zu einer Verbesserung beitragen.

Die Bevölkerung auf Lesbos musste die fehlende gemeinsame Asylpolitik der EU auf ihrem Rücken austragen. Ihre Geduld ist nun erschöpft. Es gibt aber trotzdem auch jetzt wieder Sammelaktionen in Mytilini. Eine Organisation bittet um Babywindeln, Milchpulver und Babyfläschchen für diejenigen, denen es am schlechtesten geht. Es gibt also immer noch Solidaritätsbewegungen.

STANDARD: Premier Kyriakos Mitsotakis hat nun wieder betont, dass ein neues Lager auf Lesbos gebaut werden soll. Weiß man, wo?

Lauth Bacas: Die Ankündigungen, wo ein Lager gebaut werden soll, haben sich seit Februar 2020 drei- oder viermal geändert. Es handelt sich bei den vorgeschlagenen Flurstücken immer um unbebaute und fern abgelegene Hügel mit ein paar Schafweiden, mitten in der Pampa. Schwierig ist dort der Zugang, die Anbindung, die Abwasser- und Wasserversorgung. Und wenn das neue Lager 5.000 Leute beherbergen soll, dann bleibt es neben der Inselhauptstadt Mytilini immer noch die zweitgrößte Ansiedlung auf Lesbos. Jedenfalls ist das genannte zweite Lager noch sehr weit weg von einer Verwirklichung.

STANDARD: Die Regierung hat die Sorge, dass auch andere Camps auf anderen Inseln in Flammen aufgehen könnten und das Schule macht. Ist das realistisch?

Lauth Bacas: Das ist nicht ganz unbegründet, weil auch in den Lagern auf den anderen Inseln Überfüllung und Unterversorgung besteht. Die Problematik der miserablen und menschenunwürdigen Unterbringung ist weiterhin eine tickende Bombe. Ich denke, dass die griechischen Grenzinseln mit der Erstaufnahme einfach überfordert sind. Die Inseln sind klein und bleiben klein, die kann man ja nicht einfach breitbügeln.

Deshalb bin ich dafür, dass man die Erstaufnahme auf dem Festland macht. In Passau gibt es ja auch kein Lager für 20.000 Leute, obwohl viele Schutzsuchende dort nach Deutschland hineinkommen. Kleine Orte geraten leicht unter Stress, wenn sie überfordert sind.

STANDARD: Gibt es Konfliktpotenzial zwischen den Geflüchteten oder mit der Polizei oder der Lokalbevölkerung?

Lauth Bacas: Dokumentiert ist, dass die Leute total erschöpft, niedergeschlagen und energielos sind. Als sie wegen des Feuers aus dem Lager mussten, konnten sie schon gar nicht mehr rennen. Sie sitzen niedergeschlagen auf ihren Decken. Im Moment herrscht mehr Trostlosigkeit und menschliche Not als drohende Konflikte.

Diese Leute haben schon viele Traumata erlebt, sie reagieren auf die jetzige Not eben wie Menschen mit großen inneren Verwundungen. Einheimische aus Lesbos kommen gar nicht auf diese Straße zu den Flüchtlingen, weil diese ja abgesperrt ist. Konfliktpotenzial ist am ehesten mit der Polizei da.

STANDARD: Was passiert eigentlich im Camp, wenn andere Leute abreisen dürfen?

Lauth Bacas: Es entsteht große Unruhe. Das ist keine Entlastung für die Zurückgebliebenen. Ich habe im Lager Moria im letzten Jahr selbst erlebt, wie Gerüchte kursierten, als klar war, dass eine Gruppe von hundert Schutzbedürftigen abreisen darf. Die Mitarbeiter der NGOs wurden bestürmt, um die Liste zu beeinflussen, die die Lagerleitung erstellte. An dem Tag, als sie dann abreisten, standen die Busse unter Polizeischutz, damit sie nicht gestürmt werden. Ganz viele Leute waren zutiefst enttäuscht, weil sie sich als vulnerabel sahen und nicht auf der Liste standen. Aus dieser Enttäuschung und Spannung kann auch Aggression entstehen.

STANDARD: Durch den Brand im Lager sind auch etwa 200 Migranten freigekommen, die eigentlich in ihre Heimatländer rückgeführt werden sollten.

Lauth Bacas: Ja, in dem umzäunten Areal des Lagers gab es ein besonderes Gebiet, das doppelt eingezäunt war. Dort war der Haftbaracken-Trakt, der doppelt mit Stacheldraht umgeben war. Die Leute, die dort untergebracht waren, durften nicht aus dem Lager raus. Einige dort zählten zu jenen, deren Asylgesuch abgelehnt worden war und die in die Türkei zurückgebracht werden sollten. Aber als alles brannte, gab es Möglichkeiten zu entkommen.

STANDARD: Wie ist die Situation an der Seegrenze zwischen dem türkischen Festland und der Insel? Wie agiert die griechische Küstenwache?

Lauth Bacas: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Es gibt Einzelfälle, die von NGOs kritisiert wurden, wonach die griechische Küstenwache Boote abdrängt. Aber man kann nicht sicher sagen, ob dies entlang der Seegrenze systematisch geschieht oder in den letzten Monaten zugenommen hat, dafür gibt es keine belegbaren Rückschlüsse. Der aktuelle Rückgang der Ankünfte von Bootsmigranten und Geflüchteten hat wahrscheinlich auch mit Covid-19 zu tun.

STANDARD: Welche Möglichkeiten haben anerkannte Flüchtlinge in Griechenland?

Lauth Bacas: Seit 2010 wird jedes Jahr mehreren tausend Schutzsuchenden in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Mittlerweile sind es mehrere zehntausend. Sie haben das Recht, in Griechenland zu leben und zu arbeiten. Aber es gibt innerhalb der EU bisher keine Vereinbarungen, wonach diese Menschen auch in andere EU-Staaten umgesiedelt werden können.

STANDARD: Was würden Sie ändern, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?

Lauth Bacas: Man müsste dringend das sogenannte Dublin-System ändern, also die Verordnung, wonach jenes EU-Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, in das ein Antragsteller zuerst eingereist ist. Seit einem Jahrzehnt kommen die meisten Schutzsuchenden übers Mittelmeer nach Zypern, Malta, Italien, Spanien und Griechenland. Und diejenigen EU-Staaten, die keine Außengrenzen haben, sind fein raus.

Die EU-Südländer fordern eine Änderung dieser Dublin-Verordnung und laufen dabei seit vielen Jahren gegen eine Wand an, weil dies nur einstimmig geändert werden kann. Innerhalb von Deutschland dagegen gibt es einen Verteilungsschlüssel unter den Bundesländern, dasselbe gilt für die Schweiz. Der Tessin muss nicht alle Asylgesuche bearbeiten, obwohl dort die meisten Leute ankommen. Die Länder, die von solchen Zuströmen betroffen sind, haben auf Landessolidarität gedrängt und diese umgesetzt. Für die EU wird das nicht eingeführt, aber das wäre ein Gebot der Fairness. (Adelheid Wölfl, 16.9.2020)